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Als die Steine noch Vögel waren

Ich hatte einen Bruder, der glaubte, dass die Steine Vögel waren.
Er hieß Pekka. Ich hatte auch andere Brüder und eine Schwester,
und sie alle hatten ihre Eigenheiten und Merkwürdigkeiten, die mir vertraut waren, und viele ihrer Eigenheiten und Merkwürdigkeiten mochte ich. Aber die Eigenheiten und Merkwürdigkeiten von Pekka liebte ich am meisten. Sie begannen gleich bei seiner Geburt. Ihre anderen Kinder hatte unsere Mutter ohne Schwierigkeiten geboren oder zumindest nur unter den üblichen Geburtswehen und Schmerzen, aber bei Pekkas Geburt musste man ihr den Bauch aufschneiden. Man nannte das Kaiserschnitt. ...

Wir liebten ihn. Und Pekka liebte uns. Aber Pekka liebte nicht nur uns, er liebte alle und alles. Wenn wir Leute zu Besuch hatten, setzte Pekka sich dem Besucher gegenüber und sah ihn einige Zeit aufmerksam an. Dann sagte er: "Ich liebe dich."
Unsere Gäste wurden entweder verlegen oder fühlten sich geschmeichelt. Sie konnten ja nicht wissen, dass Pekka das allen sagte. Er liebte sein Bett, seine Socken, den Teppich und die Schürze von Großmutter. Er liebte den Duft von Mutter und den Bart von Vater. Wenn wir draußen waren, sagte er: "Ich liebe den Wald. Ich liebe die Birken. Ich liebe die Tannen und ich liebe die Kiefern, weil sie so schön duften. Ich liebe die Blumen, weil sie rot, blau und gelb sind und auch andere Farben haben, ich liebe das Gras, weil es grün ist, und die Pilze, weil sie Mützen auf dem Kopf tragen. Ich liebe Eichhörnchen, Frösche und Raupe. Aber am meisten liebe ich die Vögel und die Steine, weil sie einmal Vögel waren." -
"Ja, ist gut Pekka !", riefen wir dann. "Das wissen wir !" -
"Wer hat euch denn erzählt, dass die Steine früher Vögel waren ?", fragte er. "Du !", riefen wir, schüttelten den Kopf und lachten.





1.

Pekka liebte auch Märchen. Ich las ihm oft vor. Manchmal erfand ich auch selbst welche. Sie waren den Märchen, die ich kannte, ähnlich. Ich veränderte nur ein paar Kleinigkeiten. Das Märchen von dem verwunschenen Frosch, der erst wieder ein Prinz wurde, als ihn eine schöne Prinzessin küsste, erzählte ich Pekka mit meinen eigenen Worten.

"Es war einmal ein Frosch, der in einem Schloss geboren wurde. In dem Schloss gab es viele Frösche, und sie quakten den ganzen Tag und sprangen traurig herum, weil in dem Schloss keine einzige Prinzessin wohnte. Es gab dort einen König, aber der war ein kleiner schrumpeliger Mann, der nicht einmal eine Krone auf dem Kopf hatte. Und Töchter hatte er keine. Der kleine hässliche König tröstete die kleinen traurigen Frösche immer mit dem Versprechen: ´Morgen kommt die schöne Prinzessin und küsst euch.´ Aber sie kam nicht. Sie kam nicht am nächsten Tag, nicht am folgenden und auch nicht an den anderen Tagen. Nach einiger Zeit waren die Frösche das Warten und die leeren Versprechungen leid, und sie beschlossen aus dem Schloss zu flüchten und selbst die Prinzessin zu suchen. Sie sprangen über den Wassergraben, der das Schloss umgab, und gingen in die weite Welt, um nach der Prinzessin zu suchen. Sie sahen, dass die Welt schön war. Überall gab es Teiche, in denen kleine Frösche fröhlich leben konnten, um das Wasser wuchsen herrliche Blumen, und die Sonne schien. Und sie vergaßen die Prinzessin, und sie setzten sich auf Steine quakten zu ihrer eigenen Freude."

"Aber die Steine waren keine richtigen Steine, sondern Vögel, und eines Tages flogen sie davon und nahmen die Frösche auf ihren Flügeln mit in den Himmel", sagte Pekka und nickte. "Es ist schön, ein Frosch auf dem Stein zu sein und auf den Tag zu warten, wenn die Steine fliegen." - "Also, dann brauchen wir dich nicht zu küssen, du Kröte !", ärgerte mein Bruder Tuomo ihn. "Wenn du immer ein Frosch bleiben willst !" - "Ich muss nicht ein Frosch bleiben, es gibt auch andere Möglichkeiten", antwortete Pekka geheimnisvoll.


2.

3.

Für ihn gab es immer andere Möglichkeiten. Wenn wir alle zusammen beim Blaubeerensammeln waren und uns nachher mit vollen Körben auf den Heimweg machten, war Pekkas Korb
meistens leer. Aber seine Lippen und seine Zunge waren blau.

"Du Faulpelz !", rief ich. "Du hast die Blaubeeren selbst gegessen." - "Jetzt bin ich auch schon satt ", sagte er. "Zu Hause braucht ihr mir nichts mehr zu geben. Ich esse auch keinen Blaubeerkuchen. Ihr braucht mir keine Beere abzugeben. Ehrenwort !" Wenn wir in den Wald gingen, um Äste und Reisig für den Herd zu suchen, mussten wir anschließend Pekka suchen. Wenn wir mit ihm schimpften, sagte er: "Ihr braucht keine Angst um mich zu haben. Wenn ihr mich nicht gefunden hättet, hätte ich mich auf einen Stein gesetzt und so lange gewartet, bis der Stein sich in einen Vogel verwandelt hätte, und dann wäre ich auf ihm zu euch geflogen."

Ihm viel immer eine Ausrede ein. Nur mit der Schule nicht. Zur Schule musste er gehen wie andere Kinder auch. "Ich kann mir schon vorstellen wie er morgen strahlend nach Hause kommt und erzählt: ´Ich liebe die Lehrerin, ich liebe das Schulgebäude, ich liebe meine Bank, ich liebe alle Schüler und Schülerinnen´, sagte ich am Abend vor seinem ersten Schultag zu meinen Eltern. "Hoffentlich", sagte Vater besogt. "Ich hiffe nur, dass er nicht allzu enttäuscht ist wenn ihn die anderen auch nicht gleich lieben", sagte Mutter. "Die werden ihn lieben. Man muss ihn einfach lieben !", sagte ich.

Ich kam erst nachmittags aus der Schule zurück. Pekka war schon einige Stunden zu Hause. "Wie war es ?", fragte ich ihn. Aus seinen Augen liefen große Tränen, er seufzte wie ein alter Mann und sagte: "Ich weiß nicht, ob sie mich lieben." - "Sie müssen dich erst kennen lernen", tröstete ich ihn. "Sie werden dich noch lieb gewinnen." -"Aber ich kenne sie auch nicht, und liebe sie trotzdem", meinte er. "Ja, du", sagte ich und drückte ihn fest. "Du bist der Weltmeister im Liebhaben. Das können nicht alle." Pekka lachte. "Was ist überhaupt ein Meister ? Kann er alles ? Und die Welt ? Was kann sie ? Weisst du es ?" Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste es nicht. Eine richtige Antwort auf die Fragen von Pekka hatte ich nie.

4.

Auch wenn ich mehr gewusst hätte und klüger gewesen wäre, hätte ich keine Antwort auf seine Fragen gewusst. Es waren Fragen, auf die wohl kein Mensch die richtige Antwort gewusst hätte. Warum sich Gott nicht den Menschen zeigte ? Wo fängt der Himmel an, und wo hört er auf ? Warum ist man manchmal glücklich und dann wieder traurig ? Woher kommt die liebe ? Wie kommt es, dass man glücklich ist ? Warum muss man sterben? Wegen Pekkas vieler merkwürdiger Fragen und auch wegen seines Aussehens fürchteten wir, dass Pekka in der Schule Schwierigkeiten bekommen würde.


Marjaleena Lembcke

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