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ich Liebe es <:

Weiß der Himmel von dir von Alicia Besette.

(kapitel 2)



Ein wunderschöner Roman über Liebe, Verlust und Freundschaft.

Am Dienstagnachmittag, es ist schon dunkel, komme ich aus
dem Lebensmittelladen, ausgerüstet mit Mehl, Backnatron
und Backpulver. Backpulver ist Backpower.
Die Alte Küchenhexe kann mir gestohlen bleiben, ich werde
diesen Wettbewerb gewinnen! Gladys Knight and the Pips:
aufgelegt. Tarnschürze: umgebunden. Leerer Ofen: vorgeheizt.
Und mein Greyhound Ahab ist da, lehnt am Küchenhocker,
blinzelt mir mit dem Augenklappen-Auge zu.
In der großen Schüssel vermische ich Zucker, Ei und Vanillearoma.
Ich gebe Butter, eine Handvoll Mehl und drei Beutelchen
Instantkakao dazu. Dann zerdrücke ich eine Banane
und vier kleine Milky-Way-Riegel, übrig geblieben von Halloween,
und menge alles unter. Zum Schluss streue ich etwas
Backnatron und Backpower hinein. Immer schön umrühren.
Ein Backblech einfetten. Den Teig nach dem Zufallsprinzip
in kleinen Häufchen auf dem Backblech verteilen. Uhr stellen.
Meine alte Hauswirtschaftslehrerin, auch genannt »die
Küchenhexe«, wäre nicht zufrieden. Ich sehe sie vor mir, wie
sie mich über ihre Lesebrille fi nster anstarrt, wie ich mich auf
den Boden setze, die Augen schließe und mit den Fingern
schnippe wie die Pips. Ahab legt mir seine Schnauze auf den
Kopf, und ich kraule seinen Hals. Ich singe mit: »Why don’t
you – make me the woman you go home to – and not the one
that’s left to cry and die?«
Ahab lässt sich ächzend neben mir nieder und legt den Kopf
auf meinen Oberschenkel. Ich reiße ein Mini-Milky-Way auf,
beiße ein Stück ab und biete Ahab den Rest an. Er frisst es
im Liegen, auf der Seite, macht sich nicht mal die Mühe, den
Kopf zu heben.
Das Fenster über der Spüle rahmt den Mount Wippamunk
ein. Ich betrachte ihn versonnen, als mich ein Erinnerungsfl
ash überfällt. Ich gebe ihm nach und lasse mich forttragen:
Nick als Schüler im Sessellift von Mount Wippamunk. Sein
linker Stiefel baumelte über seinem Snowboard. Er schmetterte
»Welcome to the Jungle«, seine Stimme vibrierte in meinem
Rücken. Im Sessel hinter uns bewarf France – sechs oder sieben
Jahre, bevor sie Polizistin wurde – Nicks Hinterkopf mit
einem Schneeball, den sie aus den Eisstücken an ihrem Sicherheitsbügel
geformt hatte. »Halt’s Maul, du Spinner!«, rief sie.
Nick drehte sich um und grinste sie unter seinen buschigen
Augenbrauen an. Nicks berühmtes breites Grinsen.
Sofort kommt der nächste Erinnerungsfl ash zum Thema
Ski: Vor zwei Jahren machten Nick und ich es uns in der Skihütte
von Mount Wippamunk vor einem mit Holz betriebenen
Brennofen gemütlich. Unsere triefendnassen Jacken und
Hosen hingen an Haken an der Wand. Regen peitschte gegen
die Fenster. Doch das schlechte Wetter war uns egal; wir hatten
einige nette Abfahrten gehabt.
Vorsichtig trank Nick dampfenden Cider aus einem Styroporbecher.
Er trug einen abgetragenen Wollpullover, den er
schon seit der Highschool besaß.
»Das ist die Wirklichkeit, das Hier und Jetzt«, fl üsterte er.
Seine heiße Hand versank in meinem strähnigen aufgeheizten
Haar. Seine hellbraunen Wimpern fl atterten. Sein Atem war
schläfrig, pfi ff mal lauter, mal leiser. »Irgendwann werden wir
so sein wie die da«, sagte er und wies mit seinem Becher auf
eine Skifahrerfamilie aus Holz: lebensgroße Figuren von Mutter,
Vater und zwei Kindern, die sich am Sessellift anstellen.
In ihren Gesichtern spiegelt sich die Vorfreude auf die erste
Abfahrt der Saison.
»So werden wir bald aussehen, wenn diese komische Sache
mit deinem Herzen geklärt ist«, sagte Nick. Er betrachtete die
glückliche Familie aus Holz. »Dann fangen wir mit unserer
eigenen Familie an. Nur dass wir mehr als zwei Kinder haben
werden. Wir machen uns eine ganze Fußballmannschaft von
Kindern.«
»Wie viele wären das?«
»Neun plus du und ich, dann sind wir elf.«
»Neun Kinder?«
»Klar.«
»Soso, klar.«
Die Uhr klingelt. Die Gegenwart, das Hier und Jetzt. Auf
dem Boden sitzend öffne ich die Ofentür. Meine Bananen-
Milky-Way-Kekse bilden eine große klebrige Masse, die dem
ausgelaufenen Gehirn eines riesigen Säugetiers gleicht. Sie
tropft auf den Innenboden des Ofens. Zisch!
Erst fackele ich mit meinen Erdnussbutterplätzchen fast
das Haus ab, dann bringe ich diesen blubbernden, unessbaren
Haufen zustande. Ich denke an die Fernsehköchin
Polly Pinch auf dem Cover ihres Koch-Magazins Eine Prise
Liebe mit den glücklichen Teenies um sie herum. Polly bringt
die ganze Welt zusammen mit einem Lächeln und einem
Napfkuchen.
Und ich kriege überhaupt nichts gebacken. Nick wollte
neun Kinder mit mir, aber ich kann noch nicht mal einen
Backofen bedienen oder einen einzigen stinknormalen Keks
backen. In meiner Brust entsteht ein Loch aus Scham und
Einsamkeit. Ich bin der unförmige Kloß, den ich produziert
habe, ein zitterndes, unidentifi zierbares Häufchen Elend.
»Wie kann man es schaffen, sein ganzes Leben lang nie was
zu kochen oder backen, Capt’n?«, frage ich Ahab. »Nicht ein
einziges Mal?«
Ahab hebt den Kopf und sieht zu, wie ich aufstehe. Ich wickele
mir ein Geschirrtuch um die Hand und ziehe das schwere
Backblech heraus. Es klappert, als ich es auf den Herd stelle.
»Wie konnte Nick das ertragen? Wie konnte er mich bloß
ertragen?« Eine Träne fällt auf die riesige, halbgare Masse.
Und dann bricht es aus mir heraus, dicke heiße Tränen auf
meinen Wangen und dem Kinn, in den Haarspitzen und auf
der Schürze. Sogar auf Ahabs Kopf, als er sich gegen mein
Bein lehnt.
Es klingelt an der Tür. Rrring!
»Mist.« Mit einem Zipfel der Schürze tupfe ich mir die Au7
gen trocken. Ich beschließe, die Klingel zu überhören, bis der
Besucher aufgibt und verschwindet.
Rrrrrring!
Kacke.
Mein neuer Nachbar steht auf der Veranda. Er lockert seine
Krawatte. »Habe ich … habe ich Sie gestört?«, fragt er.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, denn natürlich stört er.
»Das riecht aber lecker!«
»Wirklich?«, sage ich. »Danke. Ich hab nur ein paar …
Plätzchen gemacht.« Ich streiche die Schürze über dem Bauch
glatt und stelle mich ein bisschen gerader hin.
Er schaut mich an, und ich frage mich, ob er merkt, dass
ich mir gerade über dem Herd die Augen ausgeheult habe. Ich
versuche ein kleines Lächeln.
»Backen Sie oft?«, fragt er.
»Ach, so ab und zu.«
»Kein Wunder, dass meine Tochter Sie mag.« Er lacht und
streckt mir die Hand entgegen. »Ich bin Garrett.« Seine Hand
ist weich, eine Schreibtischhand. »Und Ingrid ist echt ein Fan
von Ihnen.«
»Tatsächlich? Sie scheint mir ein tolles Mädchen zu sein«,
sage ich.
»Danke. Sie ist wirklich was Besonderes. Ähm, Sie haben
da …« Er weist auf eine Stelle unter seinem linken Auge.
Ich taste bei mir am gleichen Punkt. An meinen Fingerspitzen
klebt schokoladige Butter. »Oh, schön.« Ich ringe mir
ein Lächeln ab.
»Das ist mir jetzt unangenehm«, sagt Garrett.
»Mir auch.«
»Nein, ich meine, was ich jetzt sagen werde, ist mir unange8
nehm. Ich sitze nämlich ein bisschen in der Klemme und müsste
Sie um einen Gefallen bitten. Einen großen Gefallen.«
Ahab kommt an die Tür und lehnt sich gegen mich. Er betrachtet
Garrett – was für einen Greyhound schon ziemlich
freundlich ist, weil sie Fremde normalerweise ignorieren.
»Schöner Hund.« Garrett krault Ahab den Kopf, dann entdeckt
er auf meiner Schürze ein bisschen Zimt, auf Höhe
meiner Brust. Schnell schaut er mir wieder in die Augen, die
sicherlich geschwollen und rotunterlaufen vom Weinen sind.
»Was ist denn los?«, frage ich. Ahab leckt den Rand der
Schürze.
»Also, meine Kinderfrau ist abgesprungen«, sagt Garrett.
»Sie hat immer dienstags- und donnerstagsabends auf Ingrid
aufgepasst, wenn ich in Boston bin, außerdem den ganzen
Samstag über. Jetzt hat sie einen richtigen Job gefunden und
mich hängengelassen. Tja, und jetzt ist Dienstagabend, und
ich hätte schon vor zwanzig Minuten zum Unterricht fahren
müssen. Ich habe Ingrid ein paarmal mit in den Unterricht
genommen, aber sie fi ndet es einfach furchtbar.«
»Kann sie nicht bei einer Freundin übernachten?«, frage ich
und versuche, dabei hilfsbereit zu klingen.
»Bei einer Freundin?«, fragt er. »Ich … ähm … daran habe
ich noch gar nicht gedacht. Das ist eine wirklich gute Idee.
Fürs nächste Mal, meine ich. Aber, ähm, ja … ich habe überlegt,
ob Sie vielleicht auf sie aufpassen könnten. Heute Abend.
Also jetzt gleich.«
Sie wollen mich verarschen, möchte ich ihm sagen und
ihm erzählen, wie ich vor ein paar Minuten in mein ruiniertes
Dessert geheult habe. Bin ich moralisch verpfl ichtet, Garrett
darüber zu informieren, dass ich wegen Depression nicht geeignet
bin, auf ein Kind aufzupassen, nicht mal für einen einzigen
Abend?
Ich versuche erneut ein Lächeln, aber sehe ganz sicher einfach
nur panisch aus.
Garrett sieht mich an. Sein Gesicht ist ernst, sein Blick offen.
»Bitte. Wir sind gerade erst hergezogen, es war so viel los.
Es tut mir wirklich leid, Sie damit zu belästigen, aber ich fl ehe
Sie an.«
Babysitten? Mit vierunddreißig Jahren? Na ja, vielleicht ist
das so bei einer Witwe. Bei einer coolen Witwe.
Ich zucke mit den Schultern. »Okay …«
»Oh, Sie sind mein Lebensretter! Hören Sie, Ingrid kommt
gleich sofort zu Ihnen rüber. Sie ist schon auf dem Weg. Sie
macht ihre Hausaufgaben, kein Problem. Wir haben schon gegessen,
darüber müssen Sie sich also keine Gedanken machen.
Und anschließend guckt sie Fernsehen.«
»Was darf sie denn sehen?«
»Sie guckt eh nur eine Sendung, Sie wissen schon.« Garrett
grinst. »Ich komme spät nach Hause«, sagt er. »Sehr spät. Lassen
Sie die Kleine einfach auf Ihrer Couch schlafen, dann trage
ich sie rüber, wenn ich heimkomme. Sie schläft überall ein.«
»Ich gehe normalerweise um halb elf ins Bett«, sage ich.
»O Mist, wirklich? Ich komme viel später zurück. Warten
Sie nicht auf mich! Ich lasse mich selbst herein.«
»Ähm, tja«, sage ich, »die Sache ist bloß, dass ich nachts
immer die Tür verschließe.« Keine Lüge. Nick schloss nie ab,
viele Leute in Wippamunk tun das nicht. Ich schon, ich bin ja
eine Witwe.
Garrett beißt sich auf die Unterlippe. »Ja, klar. Natürlich.
Hm.«
Ingrid kommt aus dem Haus. Sie lässt ihren Rucksack über
das Geländer auf meine Seite der Veranda gleiten und klettert
herüber. »Und?«, fragt sie. »Wie sieht es aus?«
Ihr Vater schaut auf die Uhr. »Ich dachte, dass Sie sich bei
sich zu Hause bestimmt viel wohler fühlen. Oh, wie ich das
hasse, mich jemandem so aufzudrängen. Könnten Sie vielleicht
zu uns rüberkommen?«
»Moment mal«, sage ich. »Eine Sekunde.«
Ich husche hinein. Nicks Guns-’N-Roses-Schlüsselband
hängt an einer kleinen Hakenreihe direkt hinter der Tür. Ich
mache eine Faust um die kühlen Schlüssel und führe sie an
meine Lippen.
Draußen auf der Veranda umarmt Ingrid ihren Vater, er
streicht ihr über den Kopf.
»Hören Sie«, sagt er, »es tut mir leid, Sie belästigt zu haben.
Ich nehme Ingrid heute Abend doch mit zum Unterricht. Ist
schon gut. Machen Sie sich keine Gedanken.«
Ich reiche ihm die Schlüssel. »Kommen Sie einfach rein,
wenn Sie zurück sind.«
»Yesss!« Ingrid nimmt ihren Rucksack und saust an mir
vorbei ins Haus. Ahab folgt ihr.
Garrett betrachtet die Schlüssel. »Ganz bestimmt?«
»Das geht schon.«
»Guns ’N Roses, hm?«
»Sweet child o’ mine«, sage ich lächelnd.
Er schmunzelt über die Anspielung und steckt die Schlüssel
in die Tasche seines Wollmantels. »Ach«, sagt er. Er holt
ein kleines grünes Kästchen hervor. »Das hätte ich fast vergessen.
«
»Was ist das?«
Er reicht mir das Kästchen, auf dem steht: »Automatisches
Injektionsgerät.«
»Normalerweise werden Sie das nicht brauchen. Ist nur für
alle Fälle.« Er will die Stufen der Veranda herunterspringen.
»Hey«, rufe ich ihm nach. »Garrett, ich bin nicht dazu ausgebildet,
einem Kind eine Spritze zu geben.«
»Keine Sorge. Ingrid darf alles essen, nur nichts mit Erdnüssen.
Sie weiß aber, wovon sie sich fernhalten muss. Sie ist
sehr vorsichtig – ein alter Profi . Und sie ist wirklich ein tolles
Mädchen, Zell.«
Garrett wirft Aktentasche und Mantel auf die Beifahrerseite
seines Pick-ups und steigt ein.
»Wo bleibt das Aber?«, rufe ich.
»Sie mag Sie.« Er schlägt die Tür zu, grüßt nochmals und
fährt um die Ecke.
Ingrid ist in der Küche. Sie mustert meinen zusammengesackten
Backversuch. »Was ist das denn?«, fragt sie.
»Oh, nichts«, sage ich. »Ich versuche nur, mir was für den
Polly-Pinch-Wettbewerb auszudenken.«
»Sind da Erdnüsse drin?«, fragt sie und hat schon den Finger
ausgestreckt. »Oder Erdnussbutter?«
»Nein. Aber da sind Milky Ways drin.«
»Aha. Ich riskier’s besser nicht.« Sie tritt einen Schritt zurück.
»Also, das sieht wirklich komisch aus, aber ich wette, es
schmeckt gar nicht so übel.«
Ich bedanke mich mit einem Nicken. Ingrid klettert auf
einen Hocker und stapelt ihre Schulbücher auf die Arbeitsplatte.
»Machst du Hausaufgaben?«, frage ich.
»Ja.«
Sie kaut auf ihrer Lippe und löst einige Matheaufgaben. Ich
kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal auf Kinder
aufgepasst habe. In der Middle School wahrscheinlich, als die
Zwillinge von den Pierces sechs oder sieben Jahre alt waren.
Während Ingrid es sich in meiner Küche bequem macht, hab
ich ein komisches Gefühl, so als wäre ich hier nicht zu Hause.
Nach einer Minute schaut sie hoch. »Du musst mir nicht
dabei zugucken, ja?«
»Soll ich dir das Haus zeigen?«
»Nö. Es sieht genauso aus wie unseres.« Sie wendet sich
wieder ihren Aufgaben zu.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, und ich will sie eigentlich
gar nicht hierhaben. Aber da kann ich jetzt nichts machen.
»Ist das in Ordnung, wenn ich nach oben gehe und ein
bisschen arbeite?«, frage ich.
Ingrid kichert. »Ich bin doch kein Baby, ich bin neun.«
»Gut. Ich bin oben, wenn du was brauchst. Ruf mich einfach.
«
Sie schaut von ihrem Heft hoch und grinst mich an. »Okeydokey.
«
Als ich eine halbe Stunde später wieder nach unten komme,
läuft der Fernseher. Polly Pinch säubert silbrige Krabben im
feinen Wasserstrahl der Spüle. Sie zwinkert in die Kamera.
»Das wird … total … mjamm!«
»Mach’s dir gemütlich«, sage ich ironisch. Irgendwie ärgert
es mich, dass Ingrid mit angezogenen Beinen meine Couch in
Beschlag genommen hat.
»Danke«, sagt sie, ohne den Sarkasmus zu bemerken. Sie
grinst mich breit an. »Guckst du mit?«
Ich lasse mich neben Ingrid aufs Sofa fallen.
Sie hebt ihre mit Filzstift verschmierte Hand. »Psst!«
Die Kamera verweilt auf Polly Pinch, zeigt eine Nahaufnahme
ihrer leichtgeöffneten, geschwungenen Lippen. Sie
träufelt ihre Sauce, »Geheimnis der Liebe Nr. 2«, auf Zuckererbsenschoten
in einem Wok.
Nahaufnahme von ihren grünen Augen, groß wie Walnüsse.
Polly gesteht, von einer beliebten Marke Kartoffelchips »total
abhängig« zu sein.
Nahaufnahme von ihren schmalen Fingern, die eine Möhre
auf einem feuchten Holzbrett schneiden.
Nahaufnahme ihrer Hüfte. Polly rollt einen Supereasy-Fluffy-
Pastetenteig aus.
»So, und was dieses Schätzchen jetzt braucht … ist eine
Prise Liebe!«, erklärt Polly. Sie fasst in ein bauchiges Keramikgefäß
mit der Aufschrift LIEBE und streut den Inhalt in den
inzwischen zischenden Wok.
Nach einer Werbepause schiebt Polly eine Gabel in die von
ihr zubereitete Variante eines orientalischen Pfannengerichts.
Neben ihr wartet schon ein Stück Brombeertorte, supereasy zu
machen natürlich. »Bis zum nächsten Mal, und vergessen Sie
nicht die Prise Liebe!«, sagt sie. Ihre glänzenden Lippen schließen
sich um eine Gabel voll Krabben. »Hmm! Mjamm!«
Das nächste Mal, stellt sich heraus, kommt direkt anschließend;
schon läuft der Vorspann zur nächsten Folge von Eine
Prise Liebe. Große, geschwungene Buchstaben schweben über
den Bildschirm, dann erscheint Polly in ihrer Fünfziger-Jahre-
Küche und tanzt und singt zum Doo-whop-Titellied.
»Doppelfolge?«, frage ich.
»Ja.« Ingrid verschränkt die Finger hinter dem Kopf. »Na
klar.«
Ahab kommt hereingetrottet und steigt auf die Couch zwischen
Ingrid und mich. Er legt den Kopf in Ingrids Schoß. Sie
fährt mit den Fingerspitzen über seine Schnauze. Es fühlt sich
so seltsam an, hier mit diesem kleinen Persönchen zu sitzen,
das ich kaum kenne, und eine Kochshow anzuschauen.
»Bist du fertig mit deinen Hausaufgaben?«, frage ich.
Ingrids Augen sind auf den Bildschirm geheftet. »Ja, ich bin
fertig. Alles gemacht. Jede einzelne Aufgabe.«
Nahaufnahme von Pollys kurzen, orangerot lackierten
Nägeln. Sie reibt ein Schweinelendchen mit einer Knoblauchmasse
ein. »Diese Paste schießt den Vogel ab«, verspricht sie.
»Das wird richtig … mjamm.«
»Hast du schon mal versucht, ein Rezept nachzukochen?«,
frage ich Ingrid.
»Nein«, fl üstert sie.
»Warum nicht?«, fl üstere ich zurück.
»Weil sie mir das Kochen irgendwann zeigen wird. Persönlich,
meine ich.«
»Wer?«
»Meine Mutter.«
»Oh«, sage ich, »das wird bestimmt nett.« Bisher hatte ich
angenommen, dass Ingrids Mutter einfach nicht existiert.
»Wo ist deine Mutter denn?«, versuche ich so beiläufi g und
unneugierig wie möglich zu sagen.
»Da.« Ingrid weist auf den Fernseher.
»Polly Pinch?«
»Ja.«
»Polly Pinch ist deine Mutter?«
Nahaufnahme von Pollys ebenmäßigen weißen Zähnen.
Sie stellt den Nachtisch vor: ein Anismousse, supereasy zu
machen.
»Polly Pinch ist deine Mutter?«, wiederhole ich.
Ingrid schaut mich an. Ihre Lippen und ihre Nase beben.
»Keiner glaubt mir das.«
»Ich glaube dir. Wirklich.« Aber ehrlich gesagt, weiß ich
nicht, was ich glauben soll.
Ingrids Unterlippe zittert. Vielleicht vermutet sie, dass ich
ihr die Geschichte nicht ganz abkaufe.
»So, und was dieses Schätzchen jetzt braucht … ist eine
Prise Liebe!«, sagt Polly. Sie hantiert mit einem Fläschchen
Schlagsahne herum und macht eine »Drei Engel für Charlie«-
Pose.
»Sie ist perfekt«, sagt Ingrid. »Guck doch mal! Sie ist wunderschön,
sie kann kochen, sie ist lustig und klug.«
»Das hast du anscheinend alles von ihr geerbt«, bemerke
ich.
»Ich weiß. Das stimmt. Dabei habe ich sie noch nie kennengelernt.
« Ingrid schlägt ihre Hände vors Gesicht und macht
ein paar Schluckauf-Laute.
Kacke.
Ich hatte noch nie eine schluchzende Neunjährige auf
meiner Couch. Ich fühle mich hilfl os. Am liebsten würde ich
selbst losweinen. Nick wüsste, was jetzt zu sagen wäre. Nick
wüsste genau, wie man jetzt reagiert.
Polly tupft sich den Mundwinkel mit einer Stoffserviette
ab. »Hmm.«
Ich greife zur Fernbedienung und schalte den Fernseher
aus; Polly wird zu einem silbrigen Punkt.
»Ingrid?«, sage ich.
Sie antwortet nicht.
Das ist nicht gut. Ich muss sie ablenken.
»Willst du was spielen?«, frage ich.
Sie schüttelt den Kopf. Ihre kastanienbraunen Zöpfe baumeln
hin und her. Die Perlen schlagen gegeneinander.
Mir fällt sonst nichts ein, was ich vorschlagen könnte. Vielleicht
kann ich sie irgendwie bestechen. Könnte meine einzige
Chance sein. »Was können wir tun, damit du aufhörst zu
weinen?«, frage ich. »Was kann ich jetzt sofort tun, damit du
wieder lachst?«
Ingrids Schultern beben. Sie murmelt etwas in ihre Hände.
»Mhabsolffen … schnwiepard.«
»Was? Ich kann dich nicht verstehen. Schau mich mal an.«
Ihre Hände gleiten von ihrem Gesicht. Ihre Wangen sind
nass. Sie holt tief Luft. »Ahab soll laufen. Fast so schnell wie
ein Gepard.«
»Ich soll Ahab laufen lassen? Du meinst: jetzt sofort?«
Sie nickt. Mit dem Handrücken wischt sie sich Rotz vom
Kinn. »Kann er ganz, ganz schnell rennen?«
»Dein Dad kommt bald nach Hause.«
»Nein, das stimmt nicht. Er kommt erst ganz doll spät nach
Hause.«
Ahab döst mit dem Kopf auf Ingrids Schoß. Seine Barthaare
zucken im Schlaf. Sind kleine Mädchen so? Oder ist Ingrid
ein Spezialfall? War ich auch so?
»Wir können ihn vielleicht ein andermal laufen lassen«,
sage ich. »Wenn du nicht am nächsten Tag in die Schule
musst.«
Ihre Augen werden noch grüner. Eine einzelne Träne quillt
hervor und läuft ihr die Wange hinunter.
»In Ordnung?« Ich boxe sie sanft gegen die Schulter, so wie
Russ es immer bei mir macht.
»Nicht in Ordnung. Gar nicht. Du hast gefragt, was ich will.
Ich hab’s gesagt.« Ingrid schluchzt und hustet.
Sie hat ja recht. Aus irgendeinem Grund muss ich an Nicks
Geschenk denken. An Nicks Geschenk aus dem Ofen. Die
würfelförmige Box von der Größe eines Menschenkopfs. Sie
liegt oben bei mir im Flur, vor der Tür zum Dachboden.
»Wir machen einen Deal«, sage ich und schlage mir auf die
Schenkel. »Wenn du mir einen Gefallen tust, gehe ich mit dir
los, und wir sehen zu, wie Ahab fast so schnell wie ein Gepard
läuft.«
Ahab hebt den Kopf, als Ingrid an den Rand der Couch
rutscht. »Was meinst du damit?« Ihre Lippen und ihre Nase
sind vom Weinen geschwollen.
»Also, du bist doch allergisch auf Erdnüsse, nicht?«
Sie nickt.
»Ich bin allergisch auf meinen Dachboden.«
»In echt?« Ihre Tränen versiegen. Ihre Stimme ist wieder
fest.
»In echt. Ich habe eine Dachbodenallergie. Ganz schlimm.«
Ingrid tätschelt meinen Arm. »Ich liebe Dachböden. Da
gibt’s so viele Geheimnisse und so viele Geschichten und
manchmal sogar einen verborgenen Schatz.«
»Das stimmt. Da hast du hundertprozentig recht.«
»Hey, da habe ich sogar milliardenprozentig recht.«
»Das Ding?«, fragt Ingrid. Sie zeigt auf Nicks Geschenk.
Ich lehne mich gegen die Schlafzimmertür.
»Das letzte Mal, als ich das Ding angepackt habe, bist du
ausgefl ippt«, sagt sie. »Weißt du das noch?«
»Ja. Aber jetzt bin ich darüber hinweg. Jetzt möchte ich,
dass du es aufhebst. Aber nicht schütteln! Trag es einfach oben
auf die Treppe und setz es dort ab.«
Ingrid entdeckt die Textmarkerspuren an ihren Händen,
leckt sich den Daumen und reibt über die Flecke. »Das ist
alles?«
»Das ist alles.«
»Warum?«
»Weil es da hingehört«, sage ich.
»Alles hat seinen Platz.« Ingrid nickt. »Das sagt mein Dad
auch immer, wenn ich mein Durcheinander aufräumen soll.
Er ist ’n Ordnungsfanatiker.«
»Das stimmt: Alles hat seinen Platz. Und das da –« Ich zeige
auf die Box, »– gehört in die Dachkammer. Auf die ich stark
allergisch bin.«
»Das war doch in deinem Ofen, nicht? Du wolltest es im
Ofen verbrennen.«
»Ich wollte es nicht verbrennen. Das war ein Versehen. Ich
wusste nicht, dass es in meinem Ofen war.«
»Wieso wusstest du das nicht?«
»Ich backe nicht oft, okay?«
»Okay. Aber du lernst es jetzt, nicht? Für den Wettbewerb.
«
»Das stimmt.«
»So, dann zeig mir mal den Dachboden«, sagt Ingrid und
verschränkt die Arme. »Sieht bestimmt genauso aus wie unserer.
«
»Das bezweifl e ich.«
Der gläserne Türknauf im Flur refl ektiert das winzige Bild
von mir, daneben die noch kleinere Ingrid. Ich schließe die
Hand um uns beide und drücke mit Ellbogen und Hüfte gegen
die Tür. Sie öffnet sich einen Zentimeter.
Ich drücke weiter. Fünf Zentimeter.
Und weiter. Dreißig Zentimeter.
Ingrid steckt den Kopf hinein und blickt die Treppe hoch.
»Ganz schön viel Staub hier oben.«
»Ich weiß.«
»Riecht echt komisch.«
»Ich weiß, tut mir leid.«
»Hey, Zell, das ist echt total abgespaced hier.«
Ich schiebe die Hand hinein, taste an der Wand nach dem
Lichtschalter und betätige ihn. Mein Herz schlägt wie verrückt,
immer schneller, poch poch. Als das Licht auffl ackert,
springe ich zurück zu meiner Schlafzimmertür.
»Alles klar?«, fragt Ingrid. »Du bist aber echt schlimm allergisch.
«
»Schon gut.« Ich zwinge mich zu lächeln. Mein Herzschlag
setzt komplett aus: die schwerelose Abwesenheit des inneren
Pochens. Dann arbeitet das Herz normal weiter, in gleichmäßigem
Rhythmus.
Im zusätzlichen Licht vom Dachboden funkelt der Türknauf.
Der Fußboden vor der ersten Stufe zur Dachkammer
wirkt nicht nur abgerieben, sondern abgekratzt.
Ingrid atmet tief durch.
»Hör zu«, sage ich, »du musst das nicht –«
»Ich erlebe aber gern ein Abenteuer. Versprichst du mir, dass
du nicht ausfl ippst, wenn ich das Ding in die Hand nehme?«
»Versprochen. Ich fl ippe nicht aus.«
»Und schwörst du mit großem Indianerehrenwort, dass ich
es nur nach oben tragen und da hinstellen muss, und danach
lassen wir Ahab laufen? Gleich sofort?«
»Großes Indianerehrenwort.«
»Auch wenn es schon ein bisschen spät ist?«
»Ja.«
Ingrid schaut mir in die Augen. Dann greift sie nach meiner
Hand, spreizt meinen kleinen Finger ab und hakt ihren
eigenen darunter. Sie hebt das Geschenk hoch, klemmt es sich
unter den Arm und rast die Treppe hinauf.
»Was ist das alles für Zeug hier oben?«, ruft Ingrid. »Was
sind das für –«
»Stell einfach den Karton neben die andere Kiste und
komm wieder runter. Nichts anfassen da oben!«
»Schon gut.«
Klong.
»Vorsichtig!«, rufe ich.
»’tschuldigung. Komme ja schon.«
Ich höre, dass sie langsam hinuntersteigt, mit beiden Füßen
auf jede Stufe tritt. »Halt dich am Handlauf fest!«, rate ich ihr.
»Tue ich«, sagt sie. »Warum bist du so aufgeregt?«
20
Weil ich die wütende Dorfwitwe bin? Weil ich ein zitterndes
Häufchen Elend bin, das nicht backen kann und kleine
Kinder zum Weinen bringt?
Die Tür zum Dachboden quietscht fürchterlich, als ich sie
schließe. Ingrid wischt sich unsichtbaren Staub von den Kleidern,
nimmt meine Hand und führt mich durch den Flur.
»Zeit für Ahab«, verkündet sie. Doch vor der Tür zu meinem
Arbeitszimmer bleibt sie stehen. Sie ist einen Spaltbreit
geöffnet, so dass man gerade so Hanks Fingerspitzen und Zehen
erkennen kann.
»Zell?« Sie nähert sich Hank.
»Ich glaube, das willst du nicht sehen«, sage ich und stelle
mir vor, was Garrett denkt, wenn er mitkriegt, dass in meinem
Arbeitszimmer ein Skelett hängt. Ich will die Tür schnell
schließen, doch es ist schon zu spät: Ingrid schaut bereits den
hoch vor ihr aufragenden Hank an.
»Ähm, warum steht hier ein Skelett?« Ingrid knipst das
Licht an und schaut sich um – sieht die Wirbelsäule samt
Hirn an der Wand, das zerschrammte Herz im Regal.
Der Anblick des Herzmodells fl asht mich direkt in eine Erinnerung:
Nick hat es mir zu unserm Highschoolabschluss
geschenkt. Während EJ und France für Fotos posierten, nahm
er mich am Handgelenk und zog mich unter die Tribüne.
Er holte eine Papiertüte aus seiner Jacke. »Ich hatte keine
Zeit mehr, es einzupacken. Es ist heute Morgen mit der Post
gekommen.«
Ich hielt das Herz in den Lichtstrahl, der zwischen den
Tribünen durchfi el, und betrachtete es. Nick wusste, dass ich
medizinische Illustratorin werden wollte. Wir wussten beide
schon recht früh, was wir mal werden wollten. Wahrscheinlich
hat uns das in der Highschoolzeit einander nähergebracht.
»Du bist wahrscheinlich das einzige Mädchen auf der gan21
zen Welt, das vor Freude weint, wenn sie ein Herzmodell in
der Hand hat«, sagte er.
Ich schlang die Arme um ihn und fl üsterte: »Ich liebe dich.«
Es war das erste Mal, dass ich es sagte. Ich weiß noch, wie sich
seine Arme um meine Hüften anfühlten, seine Lippen auf
meinem Ohrläppchen, als er sagte: »Ich weiß. Und ich liebe
dich auch.«
Das Herz ist inzwischen ziemlich abgeschrammt, nachdem
es mit mir aufs College und zurückgereist ist.
Ingrid marschiert zu meinem Schreibtisch. »Ist das ein
Augapfel? Aha! Das ist echt ein Augapfel. Bei dir auf dem
Schreibtisch!«
»Gehen wir«, sage ich. »Ich will nicht, dass du noch Albträume
von dem ganzen Zeug hier bekommst.«
Sie dreht sich um und schüttelt den Kopf. »Wie bist du
denn drauf?«
»Ich zeichne Körperteile. Das ist mein Beruf.«
»Erst die ganzen komischen Sachen in deiner Dachkammer,
und jetzt diese komischen Sachen. Zeig mal!«
»Was soll ich dir zeigen?«
»Was du so malst.«
»Willst du das wirklich sehen? Das ist alles ziemlich … anschaulich.
«
»Ich mag anschauliche Sachen. Glaub ich.« Ingrid pfl anzt
sich auf meinen Hocker und rollt zum Schreibtisch hinüber.
Ich setze mich an meinen Laptop und zeige ihr die letzte eingescannte
Zeichnung: der Querschnitt durch eine gesunde
Arterie. Ich erkläre ihr, dass das Blut ungehindert durch die
Adern fl ießt, wenn man sich gesund ernährt und regelmäßig
Sport treibt. Wenn die Blutbahnen von allen möglichen Dingen
verstopft werden, würde das Herz krank.
Ingrid betrachtet die Zeichnung auf dem Bildschirm und
liest die Beschriftung ab. Sie lauscht ihren eigenen Worten:
Tunica intima, Tunica media, Tunica adventitia.
»Das ist dein Beruf?«, fragt sie.
»Ja.«
»Ganz schön spannend.«
Ich schließe die Datei. Darunter ist noch eine E-Mail offen,
die ich vor einiger Zeit begonnen, aber nie abgeschickt habe.
Ingrid erblickt sie, bevor ich sie wegklicken kann. »War das
ein Brief?«, fragt sie.
»Eine E-Mail.«
»Von wem?«
»Von mir.«
»An wen?«
»An meinen Mann.«
»Warum?«, fragt sie.
»Weil Menschen, die sich lieben, einander schreiben.«
»Aber ich dachte, dein Mann ist tot. Das hat mein Dad mir
gesagt, als ich ihn gefragt habe, ob du verheiratet bist.«
»Das stimmt«, sage ich. »Er ist tot.« Es wundert mich nicht,
dass Garrett von der Geschichte gehört hat. Ich greife nach
meinem großen Plastikaugapfel und streichle die Nerven, die
sich über die Aderhaut ziehen. Ich muss das Thema wechseln,
aber in meinem Hals formt sich ein Kloß, und ich habe Angst,
den Mund aufzumachen.
Ingrid hüpft vom Hocker, klettert auf meinen Schoß und
schlingt die Arme um meinen Hals. Ich bin überrascht, wie
vertraut sie mir ist, dass sie mir so direkt vertraut. War ich als
Kind auch so offen?
Ihre grünen Augen suchen meine. »Du lügst mich nicht an,
oder?«
Das tut ein bisschen weh, denn ich habe sie tatsächlich
schon angelogen – kleine Notlügen, zum Beispiel mit der
Dachboden-Allergie und meinen Kochkünsten. Ich reibe mit
dem Daumen über die klare Netzhaut. »Das Leben ist schwer
genug«, sage ich.
»Trudy lügt mich auch nicht an. Das merke ich.«
»Wer ist Trudy?«
»Meine Stiefoma.« Ingrid steckt einen Finger in die Pupille
des Plastikauges. »Hat man ein Loch im Auge? In echt?«
»In echt.« Ich lege das Auge zurück und klappe den Laptop
zu. »Komm! Ahab hat noch ein kleines Rennen vor sich.«
Ingrid, Ahab und ich schlittern die High Street hinunter. Der
blaue Webpelz an der Kapuze von Ingrids Jacke umringt ihr
rundes Gesicht mit den Sommersprossen. Sie lacht über Ahabs
enganliegenden Fleecemantel und seine Neoprenschuhe. Ich
sage ihr, sie solle still sein, als wir den Abhang hinunterrutschen.
»Wie heißt er mit ganzem Namen?«, fragt Ingrid.
»Captain Ahab’s Midnight Delight.«
»Versteh ich nicht.«
»Haben wir uns nicht ausgesucht.«
»Wer ist wir?«
»Nick und ich.«
»Ist Nick dein toter Mann?«
»Ja. Aber du kannst den Hund einfach Ahab nennen. Oder
Captain. Oder abgekürzt Capt’n oder Cappy.« Mit Ahabs
Stimme füge ich hinzu: »Klar Schiff, ihr Kielschweine!«, worüber
Ingrid noch lauter lachen muss. Ich weiß nicht mal, was
der Satz bedeutet, aber Nick sagte ihn immer, und er klingt
nach Pirat.
Ingrid stellt mir unzählige Fragen über Ahab. Was ich ihr
nicht erzähle:
1. Nick gehörte zu den Männern, die immer schon wussten,
dass sie irgendwann heiraten, ein Haus kaufen und sich einen
Hund anschaffen würden. All diese Ziele arbeitete er in genau
dieser Reihenfolge ab.
2. Wir machten immer Witze über den Namen »Captain
Ahab’s Midnight Delight« und sagten, er klinge wie der Titel
eines Walfänger-Pornos.
3. Nick machte Hunderte von Schwarzweißfotos in Ahabs
ersten Jahren bei uns. Ahab, der mit wildem Blick seinen eigenen
Schwanz jagt. Ahab, der in die Sonne blinzelt. Ahab,
Ahab, Ahab, als sei er unser erstes Kind.
Was ich Ingrid hingegen erzähle:
1. Ahab ist ein Renn-Champion im Ruhestand. Er kam
zu uns, als er keine Lust mehr hatte, zusammen mit anderen
Hunden auf einer Rennbahn hinter einem mechanischen Kaninchen
herzulaufen.
2. Als Welpe wurde ihm von bösen Männern eine Nummer
ins Ohr tätowiert, um ihn besser von den anderen Hunden
unterscheiden zu können.
3. Ich putze ihm jeden Abend die Zähne mit einer Zahnpasta
mit Hühnchengeschmack, weil Greyhounds ganz schlimme
weiche Zähne haben.
4. Ja, er soll so dünn sein.
5. Er fängt keine Frisbees, holt keine Stöckchen und macht
kein Sitz.
Ingrid macht bei Nr. 5 die Probe aufs Exempel. Sie hält
Ahab auf der Straße an, schreit »Sitz!« und drückt seinen Hintern
herunter.
Er setzt sich nicht, sondern bleibt einfach stehen.
»Arr, haltet mir das verrückte Gör vom Pelz, Halunken«,
krächze ich.
Ingrid kichert.
Ich hoffe, dass Ahab heute Lust zum Rennen hat. Ich hoffe,
dass er Ingrid eine schöne Show bietet. Denn manchmal hat
er einfach keine Lust. Dann ist nichts mit ihm zu machen.
Manchmal gehe ich abends mit ihm zum Feld und löse die
Leine, und er steht einfach da und schnuppert herum. Ich
gebe ihm ein paar Minuten. Er scharrt im Boden oder winselt.
Dann mache ich die Leine wieder dran, und er führt mich
nach Hause. In dieser Hinsicht sind Greyhounds wie Katzen:
launisch und geheimnisvoll. Meistens tun sie nicht, was man
von ihnen will. Wie ein echter Wippamunker behält Ahab
seine Gründe für sich.
Ingrid, Ahab und ich überqueren die leere Main Street und
stapfen den Hügel zur Highschool hinauf. Ich atme schwer
vor Anstrengung. In meiner Lunge summt ein sonderbares,
kühles metallisches Brennen.
Auf dem Footballfeld schließe ich das Tor hinter uns. Zur
Sicherheit ist das Flutlicht die ganze Nacht über angeschaltet,
ein Glück für Ahab, denn er wird langsam blind – seine Augen
werden jeden Tag milchiger –, er kann im Dunkeln nicht
mehr gut sehen.
»Man kann Greyhounds nur in einem geschlossenen Bereich,
wo sie nicht abhauen können, von der Leine lassen«,
sage ich. »So wie hier. Siehst du?« Ich zeige Ingrid den Zaun
um uns herum; er umgibt das Spielfeld. Lückenlos.
»Warum?«, fragt Ingrid.
Ich löse Ahabs Leine. Er schnuppert die Nachtluft und tut
so feierlich wie ein Beat-Poet, der sich ein Jazzgedicht ausdenkt.
»Weil er hinter jedem pelzigen Ding herläuft, das sich bewegt
«, erkläre ich. »So ist er einfach. Wenn er es einmal auf
ein Eichhörnchen, eine Katze oder etwas Ähnliches abgesehen
hat, ist er nicht mehr aufzuhalten.«
»Nie von der Leine lassen?«
»Nie von der Leine lassen. Nur wenn alles abgeriegelt ist.«
Ich ziehe Ahab die Schuhe aus und stopfe sie in meine Taschen.
Er wird ganz ruhig. Scheint nicht einmal mehr zu atmen.
Erinnerungsfl ash: Ahab hetzte über das Feld. Nick saß
neben mir auf der Tribüne und machte das Geräusch eines
getunten Sportwagens, der den Gang wechselt.
Ingrid zupft an meinem Ellenbogen. Wir warten auf die
plötzliche Bewegung des Captains, auf die explodierende Geschwindigkeit.
Doch er steht einfach nur da.
Ich öffne den Klettverschluss seines Mantels und ziehe ihn
von Ahabs Rücken, knisternd vor aufgeladener Elektrizität.
Ich falte den Mantel zusammen und klemme ihn mir unter
den Arm. Ahab buddelt im Schnee.
»Lauf!«, sage ich.
Er gähnt.
»Ahab, lauf!«
Er niest.
Hinter uns knirschen Autoreifen über den gefrorenen Boden.
Ein Streifenwagen rollt ans Feld, auf das Tor zu. France
sitzt am Steuer. Eine Weile sieht sie uns zu und spricht ins
Funkgerät. Dann steigt sie langsam aus dem Wagen, schließt
die Tür, kommt zu uns herübergeschlendert. Sie lässt ihre
dünnen Arme über den Maschendrahtzaun baumeln.
»Alles in Ordnung?«, fragt sie. »Ganz schön kalt hier draußen.
He, Ingrid, alles klar?«
Ingrid strahlt. »Hi, Offi cer Frances«, grüßt sie.
France lächelt Ingrid mit ihren schiefen gelben Zähnen an.
»Hey, France«, sage ich mit steifgefrorenen Lippen. Es ist so
kalt, dass mir die Augäpfel weh tun.
Sie legt mir einen Arm um die Schulter und drückt mich
kurz. »Was ist mit deiner Küche?«
»Nichts. Alles in Ordnung.«
»Hab schon gehört. Bei dir auch alles klar?«
Ahab trottet zum Zaun und beschnuppert Frances’ Finger.
Sie will ihm das Kinn kraulen, kommt aber nicht heran. Er
macht ein paar Schritte, hockt sich hin und pinkelt. Um ihn
herum steigt Dampf auf, als stände er auf der Bühne eines
Rockkonzerts. Aus irgendeinem Grund sehen wir drei ihm
beim Pinkeln zu.
»Ich fi nd’s nicht so gut, dass du ganz alleine nachts unterwegs
bist, Zell«, sagt France.
»Ich bin nicht allein.«
»Du weißt, was ich meine.« Sie rückt ihren Halswärmer mit
der Aufschrift POLIZEI WIPPAMUNK zurecht. »Sei vorsichtig
hier oben. Verstanden? Pass auf. Sei auf der Hut!«
»Ahab will für mich laufen«, sagt Ingrid.
»Danach gehen wir«, erkläre ich.
»Es ist toll anzusehen, wenn der Captain rennt«, sagt
France.
»Dann können wir noch ein paar Minuten bleiben?«
»Aber nur noch ein paar.« Sie klopft mit der Faust im Lederhandschuh
auf den Zaun.
»Super. Danke, dass du hier nicht den Wachhund spielst«,
sage ich.
»Kein Problem.«
France würde nie mit mir zur Pediküre gehen oder gemeinsam
ein kleines Schwarzes kaufen, aber sie ist immer noch
meine beste Freundin. Meine beste Freundin, deren Gegenwart
ich seit Nicks Tod nur schwer ertrage. Weil sie es war, die
Nick überredete, mit auf die Hilfstour für die Katrina-Sturmopfer
in New Orleans zu gehen, um einen Bericht darüber für
den Wippamunker zu machen.
Nick kam ganz enthusiastisch vom ersten Treffen im Rat28
hauskeller zurück. Er wollte nach New Orleans, um mal anderswo
Fotos machen zu können – irgendwo anders als in
Wippamunk. »Ich liebe es ja hier«, sagte er. »Aber manchmal
ist es halt so … so hier eben, weißt du? Und EJ fährt mit,
France und Russ, und Dennis ist Feuer und Flamme. Könnte
cool werden.«
Ahab winselt vor sich hin.
»Ihm ist kalt, Zell«, sagt France. »Du hast ihm den Mantel
ausgezogen.«
»Er läuft nicht im Mantel.«
»Warum will er nicht laufen?«, fragt Ingrid.
»Manchmal will ein Greyhound einfach nicht rennen«,
sage ich. »Lauf, Ahab!«
»Sing!«, befi ehlt Ingrid mir.
»Was?«
»Vielleicht braucht Ahab Musik zum Laufen. Mein Dad
sagt, er kann nicht ohne Musik laufen.«
»Dann sing du!«
»Nein, sing du! Das ist dein Hund.«
»Nee.«
»Ich glaube, Ahab will dich singen hören«, fl üstert Ingrid.
Sie zupft an meinem Arm. »Er will wirklich total gerne, dass
du singst.«
France lacht. »Genau, Zell. Sing für uns! Lass mal hören!«
Aber ich weiß, dass Ahab es nicht mag, wenn ich singe. Er
mag lediglich den Gesang von Gladys Knight and the Pips.
Und er liebt den Leckerli-Song, den Nick immer summte,
wenn er Ahab etwas zu knabbern gab. Nick dichtete ihn zu
der Melodie vom »Drunken Sailor«.
»Ich habe eine Idee«, sagt France. »Ich bringe den Captain,
Ingrid und dich nach Hause. Im Polizeiwagen.« Sie schaut
Ingrid fragend an, gespannt, ob die Heimfahrt in einem Strei29
fenwagen aufregender ist, als Ahab rennen zu sehen. »Willst
du im Polizeiwagen mitfahren?«, fragt sie.
Ingrid zieht ihre Kapuze zu, so dass man nur noch ihre
Nase und ihre Augen sieht. »Lauf, Ahab!«
Er kommt zu uns herüber und winselt.
Ingrid seufzt. Sie schaut auf ihre Füße und tritt in den
Schnee.
Kacke.
Aus irgendeinem Grund ist mir der Gedanke unerträglich,
Ingrid zu enttäuschen. Ich atme tief durch. Mit krächzender
Stimme singe ich das Erste, was mir einfällt: »Didn’t you know
you’d have to hurt sometime?« Ich übernehme sogar den Part
der Pips: »Sometime, sometime.« Mit angespannten, leichtgeöffneten
Lippen ahme ich den weichen Standbass nach.
Ahab neigt den Kopf. Er senkt die Gesichtshälfte mit der
Augenklappe Richtung Boden. Dann rast er los. Er hetzt hinter
einer eingebildeten Beute her und folgt dem Wegweiser ins
Nirgendwo. Hinter ihm spritzt der Schnee hoch.
Ingrid schlägt ihre Kapuze nach hinten. Sie jubelt, und ihre
Stimme wird von den hohen Weymouth-Kiefern zurückgeworfen,
die das Spielfeld umstehen. »Hab ich doch gesagt!«
France rüttelt am Zaun. »Ju-hu!«
Ich klatsche in die Handschuhe und trällere die Herzschmerz-
Ballade. Mein Gesicht ist gefühllos vor Kälte. »Didn’t
you know you’d have to cry sometime? Didn’t anybody tell you
love had another side?«
Und der Captain pfl ügt staunend und mit wildem Blick
durch den Schnee. Ausgelassen. Völlig ausgelassen.
Als France uns zu Hause absetzt, ist es schon nach zehn Uhr.
Mit Blaulicht rast sie die Main Street hoch. Ingrid möchte die
Sirene hören, aber France verspricht es ihr für ein andermal,
weil sie die Anwohner nicht aufschrecken will.
Zu Hause zieht Ingrid ihren Schlafanzug an, ohne dass ich
es ihr sagen muss. Sie fragt mich, ob ich mit ihr auf der Couch
Catchen spiele, und ich tue ihr den Gefallen. Anschließend
breite ich meine wollige Decke unter ihr aus.
»Liest du mir was vor?«, fragt Ingrid.
»Was, eine Gutenachtgeschichte?«
»Ja.«
»Ich habe aber keine Kinderbücher.«
»Irgendwas hast du bestimmt.«
»Ich habe ungefähr eine Million Ausgaben vom Wippamunker
auf dem Dachboden, außerdem eine ganze Wand
mit Anatomie-Lehrbüchern. Aber das ist es im Großen und
Ganzen.«
»Ich habe eine Idee«, sagt Ingrid: »Eine Prise Liebe – glücklich
kochen mit Polly Pinch. Das lese ich dir vor. Ich lese gerne.
«
»Du musst langsam mal Schlaf bekommen.« Ich gehe zum
Plattenspieler, halte die Scheibe an meine trockenen Lippen
und liebkose die schmalen kühlen Rillen. Dann stelle ich Gladys
an.
Ingrid sagt: »Ich mag das Geräusch.« Ich brauche einen
Moment, bis mir klarwird, dass sie das Knistern meint, mit
dem die Nadel auf der Vinylrille aufsetzt.
»Ich auch«, sage ich.
Gladys singt, dass sie ganz gut zurechtkommt, getting by
okay and learning not to cry away the day.
Ahab hebt vorsichtig eine Pfote nach der anderen, hievt seinen
alten Körper auf die Couch und rollt sich zusammen. Mit
einem Seufzer drückt er die Schnauze unter Ingrids Waden
und schließt die Augen.
Sie schiebt die Füße unter seinen Körper. »Ich fi nde es süß,
dass es aussieht, als hätte er eine Augenklappe auf«, sagt sie.
»Gute Nacht. Ich bin direkt über dir.«
»Zell? Dein Skelett ist echt cool.«
»Hank? Ich werd’s ihm sagen. Schlaf gut, ja?«
»Warte! Ich muss noch was mit dir besprechen.«
Ich stehe am Kaffeetisch, mit den Händen in den Hüften.
»Okay, aber nur ganz kurz. Dein Dad wird nicht sehr glücklich
sein, wenn er rauskriegt, dass ich dich so lange aufgelassen
hab.«
»Ich glaube, du brauchst Hilfe«, sagt sie. »Beim Backen.«
»Kannst du backen?«
»Na ja, ich gucke ganz oft Eine Prise Liebe. Ich lese die Zeitschrift
von vorn bis hinten. Mehrmals. Und weil Polly Pinch ja
meine Mutter ist, hab ich das Backen im Blut. Vielleicht kann
ich dir ja helfen. Wir könnten den Wettbewerb gewinnen, zusammen.
Als Team.« Sie strahlt mich von der Couch aus an.
Meine Decke ist wie eine Haube um ihr kleines Gesicht gewickelt.
Ich hatte eigentlich nie vor, meine Experimente mit irgendwem
zu teilen, und meine Chaos-Küche kann ich einfach
niemandem zeigen, schon gar nicht diesem kleinen Mädchen,
das ich kaum kenne.
»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist, Ingrid.«
Sie zwinkert und starrt mich an. Wieder steigen ihr die
Tränen in die Augen.
Kacke.
»Weißt du was?«, sage ich. »Wenn ich drüber nachdenke,
sind vier Hände tatsächlich besser als zwei, oder?«
Sie setzt sich auf, die Augen wieder klar. »Genau. Vor allem
in der Küche.« Ihr Arm schaut aus der Decke heraus. »Wir
müssen es uns schwören«, fl üstert sie.
Wir verschränken unsere kleinen Finger in dem dunklen
Zimmer. »Wir gewinnen den Süßes für die Seele-Wettbewerb
zusammen«, sagt sie. »Und dann werden wir bei Eine Prise
Liebe live eingeladen. Als Team. Großes Indianerehrenwort.«
»Als Team. Großes Indianerehrenwort«, wiederhole ich.
»Hört sich gut an.«
Ich weiß nicht, was ich von diesem Plan halten soll. Aber
jetzt kann ich nicht mehr raus. Ich hab’s geschworen.

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