Steven Pinker, 57, geboren in Montreal, Kanada, lehrt Psychologie an der Harvard Universität. Seine Bücher wurden in 20 Sprachen übersetzt, gerade erschien von ihm „Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit“ (Fischer). Das „Time Magazine“ zählte ihn zu den „100 einflussreichsten Menschen der Welt“
Herr Pinker, wann haben Sie das letzte Mal jemanden in Gedanken ermordet?
Ich halte es da mit dem amerikanischen Bürgerrechtler Clarence Darrow: Ich habe noch nie einen Menschen getötet, dafür habe ich viele Nachrufe mit großer Freude gelesen.
Die meisten Menschen haben ab und an Gewaltfantasien, ohne deshalb brutal zu werden.
Sind gewalttätige Menschen krank?
Wir missbilligen Gewalt, und deswegen vergleichen wir sie mit einer Krankheit. Das ist nur eine Metapher. Man muss keine Gehirnverletzung haben, um gewalttätig zu werden. Die Staatsmänner, die ihr Land in einen Krieg führten, Kämpfer in kriegerischen Gesellschaften oder die Gentlemen, die ihre Ehre in Duellen verteidigten, litten nicht unter einer Krankheit. Sie waren Teil einer Kultur, die es ihnen erlaubte, bestimmte Teile der menschlichen Natur auszuleben, die alle Menschen in sich tragen.
Gewalt steckt in uns allen?
In Männern mehr als in Frauen. Wobei jeder dazu neigt, auf eine Beleidigung oder Verletzung mit Rachegelüsten zu reagieren. In der Natur ist es immer verlockend für Lebewesen, andere auszunutzen. Als wir Menschen uns zu einer sozialen Art entwickelten, haben wir deshalb eine Reihe moralischer Emotionen entwickelt, die uns helfen, die Vorteile von Kooperation zu ernten, ohne ausgenutzt zu werden. Dazu gehört die Dankbarkeit. Wir erweisen sie jemandem, der gut zu uns war. Aber auch die Wut, wenn wir uns ausgenutzt fühlen. Wer wütend ist, wird eher auf Rache sinnen. Das macht es wahrscheinlicher, dass jemand mit ihm kooperiert, anstatt ihn auszunutzen.
Gewalt ist nicht nur Ihr Thema. Grimms Märchen, die Dramen von Shakespeare, Horrorfilme, Egoshooter. Warum ist Gewalt derart faszinierend?
Es gibt diese Faszination, sie ist unbestreitbar. Warum sollte sonst ein absolut friedfertiges, bürgerliches Paar ausgehen und „Richard der Dritte“ genießen oder die Epen Homers? Als denkfähiges Tier ist der Mensch ständig damit beschäftigt, Informationen zu sammeln und Strategien zu entwerfen, was er in einer hypothetischen Situation tun würde. Und Gewalt ist Teil seiner evolutionären Geschichte. Da ist es doch plausibel, dass eine gewisse Neugier über Gewalt hilfreich war. Brutale Unterhaltung lehrt den Menschen womöglich, wie er angreifen und wie er sich verteidigen sollte. Wenn Sie oder ich in einem Kriegsgebiet abgesetzt würden, dann würden wir uns wahrscheinlich als Erstes an all diese Filme und Bücher erinnern, um Regeln abzuleiten, wie wie uns verhalten sollten.
Es könnte doch sein, dass jemand Freude daran hat, gemein zu sein?
Das ist ein Mythos, dass Böses von Menschen verübt wird, die das bewusst tun, mit dem Wunsch, ihrem Opfer Leid zuzufügen. In Wahrheit glaubt fast jeder Mensch, der Böses tut, er handle richtig, dass er nur tut, was jeder in seiner Situation tun würde, dass er provoziert wurde, dass der Schaden, den er anrichtet, klein ist und nicht gewollt. Die Legende von der Existenz des reinen Bösen entspringt dem Standpunkt des Opfers. Als Beschreibung der Psychologie des Täters ist sie falsch. Doch unsere moralische Intuition geht von diesem Mythos aus, denn wenn wir moralisieren, sind unsere Sympathien beim Opfer.
Sie behaupten, die Gewalt habe im Laufe der Menschheitsgeschichte immer weiter abgenommen. Schwer zu glauben, wenn man sich die Welt anschaut: Kriege, Terroranschläge, Demokratiebewegungen, die brutal unterdrückt werden – auch in unserer Umgebung müssen wir von immer neuen, brutalen Übergriffen etwa in der U-Bahn lesen.
Viele Menschen nehmen das so wahr, nur, da sind gleich zwei Fehler drin. Erstens: Ein Zeitpunkt ist kein Trend. Zu sagen, dass heute Gewalt existiert, sagt nichts darüber aus, ob es früher mehr, weniger oder gleich viel Gewalt gab. Und zweitens: Die Zahl an Gewaltakten sagt ihnen nicht, wie häufig Gewalt ist, dazu brauchen sie auch die zweite Größe. Sie müssen wissen, wie viele Gewaltakte auf wie viele Menschen kommen.
Woran liegt es, dass die Gewalt zurückgeht?
Kommt darauf an, über welche wir sprechen. Wenn es um Straßenkämpfe geht, tödliche Auseinandersetzungen in Bars, dann ist Selbstkontrolle wahrscheinlich das Wichtigste. Wenn wir über institutionalisierte Formen der Gewalt sprechen, die Abschaffung von Sklaverei und grausamen Strafen, internationale Friedenshüter, Demokratie, dann ist es wohl Vernunft.
Der Mensch wird also immer friedfertiger. Ist das nicht eine Utopie?
Ich glaube nicht, dass wir jemals einen Punkt erreichen werden, an dem die Gewalt komplett verschwindet, und ganz bestimmt werden menschliche Spannungen sich nicht in Luft auflösen. Aber es kann sehr viel Spannung und Wut und Ärger geben, ohne dass wir uns gegenseitig so häufig umbringen, wie wir es immer noch tun. Man kann auf eine Welt hoffen, die besser ist als die, in der wir leben, ohne zu glauben, dass es ein Utopia sein wird.