Ryuinaka
Ich drehe mich nach rechts, starre die Wand an, drehe mich nach einiger Zeit wieder nach links, schaue mich in meinem Zimmer um. Ich schliesse meine Augen, nachdem ich mir sicher bin, dass kein Monster in meinem Zimmer ist, welches mich gleich fressen wird und versuche einzuschlafen. Nach genau 58 Minuten bin ich immer noch wach und resigniere schliesslich. Ich lehne mich im Schneidersitz an die schwarze Teppichwand und greife nach meiner Gitarre. Sanft streiche ich einmal über die Saiten und höre, dass sie leicht verstimmt sind. Ich stimme sie schnell und beginne dann mit geschlossenen Augen dieses Lied zu spielen. Mit jedem Ton entspannt sich mein Körper und ich werde ruhiger. Ich lasse meine Gedanken schweifen und schlussendlich landen sie wieder bei euch. Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen und mir wird die Bedeutung dieses Liedes wieder bewusst. Ich spiele es für euch, wegen euch und gegen euch. In Endlosschlaufe spiele ich es, ohne einen Fehler zu machen. Zu oft schon habe ich es in den vielen Nächten, in denen ich keine Ruhe fand, gespielt, als das ich mich verspielen könnte. Als wäre es selbstverständlich zupft der Daumen meiner rechten Hand die richtigen Saiten an. E-G-H-E-H-G. Meine linke Hand liegt ruhig neben mir auf der weichen Decke. Nach vier Durchgängen hebe ich die linke Hand und lege sie blind auf die unterste Seite im siebten Bund, während die andere von selbst mit ihrem Spiel fortfährt. Nun kommt auch ihr Zeigefinger ins Spiel und zwei Saiten lassen gleichzeitig ihren Ton verlauten. Meine linke Hand wechselt ihre Position, nachdem ich nochmals die unterste Seite angeschlagen habe, auf den achten Bund, dann zurück auf den siebten und schliesslich auf den fünften, den siebten, den fünften und weg vom Griffbrett, während die rechte die beiden E-Saiten dreimal gleichzeitig zupft. Danach beginnt das gleiche Spiel von vorne. Ich kann nicht aufhören, es zieht mich in seinen Bann, und kaum habe ich einen Durchgang beendet, muss ich wieder anfangen, weil ich es nochmals hören will. Wie damals in der Hütte. Wie damals als die Welt in Ordnung war. Wie damals, als nur die Liebe zählte. Ich fühlte mich unendlich wohl und zuhause. Ihr wart zwei der wichtigsten Personen für mich. Ich denke an euch, sehe euch in verschiedenen Situationen die wir gemeinsam erlebt haben. Meine Gedanken driften ab, und meine Fantasie ermöglicht mir die Vorstellung eines Lebens mit euch. Ich erlebe in meiner Welt die Dinge, welche wir noch gemeinsam vor hatten. Ich höre die Lieder, welche wir noch gemeinsam geschrieben hätten, sehe uns als 25-jährige Personen, die immer noch gemeinsam durch Dick und Dünn gehen. Doch dann mache ich den Fehler, für einen kurzen Moment wieder daran zu denken, dass es nie die Wahrheit sein wird. Meine Finger stoppen in ihrer Bewegung, weil jeder weitere Ton dieses Liedes eine Zumutung gewesen wäre. Ich verhake die zittrigen Finger meiner Hände ineinander und warte darauf, dass mein Körper sich wieder entspannt. Nach einiger Zeit fühle ich mich besser, weil ich an diejenigen gedacht habe, die den Weg mit mir gehen. Ich fahre mit dem Zipfel meines XXL-Green Day- Schlafshirts über die Gitarre um die Tränen weg zu wischen. Vorsichtig stelle ich die Gitarre zurück an ihren Platz, während in meinem Kopf immer noch dieselbe Melodie in Endlosschlaufe abgespielt wird. Ich lege mich wieder hin, greife blind nach dem Stein auf dem Nachttisch und halte mich an ihm fest, wie eine Ertrinkende am Rettungsring. Ich denke an dich, spüre deine Hände über meinen Rücken streichen und deine Lippen an meinen. Ruckartig setze ich mich wieder auf, als ich ein Pochen an meiner Fensterscheibe höre. Meine Augen versuchen trotz der Dunkelheit etwas zu erkennen. Eine halbe Ewigkeit starre ich zum Fenster und habe sogar Angst zu blinzeln. Da wird es langsam heller vor dem Fenster und im Lichtkegel sehe ich ein kleines Wesen mit Flügeln. Ich kneife meine Augen zusammen und öffne sie dann wieder, doch das Wesen ist immer noch an derselben Stelle. Ich kneife mich in meinen rechten Arm, und trotzdem verschwindet das Wesen nicht. Vorsichtig rutsche ich zum Bettrand hin und stehe schliesslich auf. Schrittchen für Schrittchen komme ich dem Wesen näher. Es hat sich inzwischen auf den Fenstersims gesetzt. Ich öffne vorsichtig das Fenster und wundere mich über mich selbst, da ich überhaupt keine Angst habe. Das Wesen schaut mich mit stechend grünen Augen an, beginnt noch mehr zu leuchten und fliegt vorsichtig näher zu mir heran. Eine ganze Weile scheint es mich von oben bis unten zu betrachten, und setzt sich dann, nachdem es sich vergewissert hat, dass ich ungefährlich bin auf meine ausgestreckte Hand. Erst jetzt sehe ich dass es auf dem Rücken einen winzigen Koffer trägt, den es jetzt auszieht und sanft vor sich hin legt. Das Wesen öffnet ihn und nimmt eine ebenso winzige Gitarre heraus, und beginnt die Melodie zu spielen, welche mir so viel Bedeutet.
Ganze viermal höre ich die Melodie, dann schaut das kleine Wesen mich wieder an, legt die Gitarre weg, fliegt hoch bis auf Augenhöhe und formt die kleinen Händchen zu einem Herz. Ich lächle ein wenig, woraufhin das kleine Ding wieder zu strahlen beginnt. Es fliegt zu meinem Nachttisch, setzt sich neben den Stein und stupst ihn vorsichtig an. Der Stein beginnt zu leuchten. Ich setze mich wieder aufs Bett und lege die Minigitarre in den kleinen Koffer zurück, und diesen neben das Wesen. Es lächelt mich dankbar an und fliegt zu meinem Pult, durchsucht mein Chaos und wird anscheinend fündig, als es einen Stift nimmt und zu meinem Block geht. Ich gehe ihm nach und nehme den Block, auf dem das Wesen inzwischen steht, mit aufs Bett. Das Wesen beginnt mit grosser Mühe, da der Stift verhältnismässig gross ist, etwas zu schreiben. Ich erkenne ein R. Geschafft lässt das Wesen den Stift sinken und setzt sich hin. Ich schaue ihm weiterhin gebannt zu. Nach einer kleinen Ruhepause steht es wieder auf, hebt den Stift hoch und will weiterschreiben, doch ich nehme ihm den Stift ab und halte ihn ganz locker, sodass es ihn führen kann, ohne das ganze Gewicht tragen zu müssen. Ein weiteres dankbares Lächeln ist der Lohn dafür. Ein I, ein C und ein O schreibt das Wesen nun auf, und ich wundere mich, woher es den Namen meines Freundes kennt. Es dreht sich zu mir um und sieht mich fragend an. Ich verstehe leider nicht genau, worauf es hinaus will, also setze ich einen ebenso fragenden Blick auf. Das Wesen dreht sich wieder um, packt den Stift und schreibt, diesmal in ganzen Sätzen: Ich heisse Ryuinaka, bin ein Elfendrache und verantwortlich dafür, die Liebe zwischen dir und Rico zu schützen. Sie ist etwas spezielles, absolut einzigartiges. Es gibt auf der Erde ca. dreizehn millionen Elfendrachen, jeder davon ist für eine Liebe zwischen zwei Menschen verantwortlich. Es ist selten, dass wir uns den Menschen zeigen, da viele Angst bekommen wenn sie uns sehen. Ich beobachte dich schon länger, und konnte darum ahnen, dass du keine Angst vor mir hättest, weswegen ich jetzt bei dir bin. Jeder Mensch muss Lasten tragen, Probleme lösen und Konflikte meistern, aber nur eine bestimmte Menge. Ich bin da um dir zu helfen, weil ich gespürt habe, dass du zu viele Lasten trägst und ein Mensch dir nicht helfen kann, da du die Gefühle nicht in Worte fassen kannst, welche du fühlst. Weil ich für dich und Rico verantwortlich bin, spüre ich eure Gefühle, als wäre ich euch und höre eure Gedanken. Ab sofort werde ich immer in der Nacht da sein, wenn du nicht zur Ruhe kommst, weil zu viele Gedanken dich plagen. Die Melodie soll nur noch positive Gefühle in dir hervorrufen, und du sollst nach vorne schauen können.
Der Stein ist jetzt aufgeladen mit positiver Energie, und immer wenn du nicht mehr weiter weisst, sollst du ihn festhalten. Du hast die Möglichkeit, ihn selbst mit positiver Energie aufzuladen, wenn du ihn küsst. Er ist dein kleiner Energieträger, den du in guten Zeiten aufladen kannst, und in schlechten Zeiten gebrauchen.
Das Wesen dreht sich wieder zu mir um und wartet bis ich die letzten Zeilen gelesen habe. Ich flüstere ihm ein „Danke“ zu, woraufhin es nur wieder herzlich lächelt, seinen Koffer mit der Gitarre auf den Rücken schwingt, die Flügel aufspannt und wieder zu mir auf Augenhöhe fliegt. Mit einem Zeichen weist es mich an, die Augen zu schliessen. Ich schliesse sie, spüre wie es mir einen Kuss auf die Wange haucht und öffne meine Augen wieder. Grelles Licht blendet mich, sodass ich zuerst ein paarmal blinzeln muss, bevor sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt haben. Ich betrachte die Zimmerdecke. Hä? Habe ich nicht eben noch auf meinem Bett gesessen? Ich setze mich auf und schaue mich um, doch Ryuinaka ist weg. War das etwa bloss ein Traum? Ich blicke neben mich auf den Stein, welcher nicht leuchtet. Ich stehe auf und gehe zum Fenster, welches angelehnt ist. Draussen scheint die Sonne, und die Kirchenuhr zeigt 14:00 Uhr an. Habe ich so lange geschlafen? Während ich zurück zum Bett schlurfe, werfe ich einen Blick auf mein Pult, wo eine kleine Glaskugel steht. An die kann ich mich gar nicht erinnern, wie kommt die hierher? Ich nehme sie und betrachte sie genauer. Ein Elfendrache der aussieht wie der aus meinem Traum sitzt drin und hält ein kleines Steinherz in der Hand. Verwirrt stelle ich die Glaskugel zurück auf das Pult und setze mich aufs Bett. Ich nehme den Stein vom Nachttisch und halte ihn mit beiden Händen fest. Ein wunderschönes, aufweckendes und mutmachendes Gefühl durchströmt mich, und ich weiss, dass Ryuinaka wirklich existiert. „Danke Ryu“