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Ich habe gelebt...

Es war einer der schönsten Tage des Jahres. Strahlend blauer Himmel, ein paar Schäfchenwolken, gute zwanzig Grad und ein leichter, beinahe zärtlicher Wind.
Das Paar spazierte gemütlich am See entlang. Vertraut, aber nicht wie ein Liebespaar. Sie waren Geschwister.
"Jetzt komm, hör auf! So alt bist du ja nun auch wieder nicht." Sie stieß ihn spielerisch an. "Du wolltest doch hundert werden, oder? Da hast du doch noch zweiundsiebzig Jahre Zeit."
Er grinste wehmütig. "Na klasse! Dann muß ich halt ein paar Millionen machen und dann als alter Knacker 'n Model heiraten, das bloß auf mein Geld scharf ist. Tolle Aussichten."
"Na und? Dann beneiden dich alle."
Bedrückt schüttelte er den Kopf. "Quatsch. Ich will jetzt endlich mal leben. Ich will 'ne Frau, die ich lieben darf und die mich auch liebt, ich will ein bis fünf Kinder und, wenn's gut geht, ohne allzu große Sorgen einigermaßen über die Runden kommen. Ist das zu viel verlangt? Einfach leben?"
"Du lebst doch!"
"Falsch. Ich existiere. Ich wurschtele so vor mich hin. Leben heißt für mich, ab und zu mal glücklich sein und vor allem: Etwas sinnvolles zu tun. Ich will nicht sterben, ohne irgend etwas getan zu haben, das Bedeutung hat."
Sie lachte auf. "Willst du nur Bundeskanzler werden oder gleich die ganze Welt retten?"
Ihr Bruder schnaubte. "Unfug! Nein, ich möchte einfach, daß irgend etwas bleibt. Wenn ich Kinder großziehe, dann lebe ich doch in ihnen weiter. Ich habe ihnen meine Werte vermittelt, ich habe sie geliebt, für sie gesorgt, ihnen hoffentlich einen guten Start ins Leben ermöglicht. Das meine ich. Oder, wenn ich mein Leben mit einer Frau verbracht habe, die ich liebe, dann habe ich ihr meine Liebe geschenkt und sie mir die ihre. Das ist doch das größte Geschenk, das man machen kann, oder?"
"Liebst du mich? Und unsere Eltern?"
"Das ist was anderes."
"Wieso?"
"Wenn es mich nicht gäbe, würdet ihr mich gar nicht vermissen. Ihr wüßtet ja nichts von mir."
"Jetzt redest du Blödsinn. Für uns bist du wichtig."
"Weil ihr mich kennt. Spielt auch keine Rolle. Ich selbst möchte einfach das Gefühl haben, irgend etwas zu bedeuten. Egal, was andere denken. Ich selbst möchte irgendwann mal zu mir sagen können: Ich habe etwas bewirkt. Etwas, das wichtig ist."
Er holte Luft. "Kurz gesagt: Ich habe gelebt."
Seine Schwester zuckte die Schultern. "Ich geb's auf." Wenn ihr Bruder mal seinen Moralischen hatte war alles Diskutieren zwecklos.

Eine halbe Stunde später saßen sie im Auto und fuhren die Landstraße entlang.
"Du?" Sie stieß ihn an. "Mir fällt gerade was ein. Wenn du jetzt nicht da wärest, dann würde ich dich schon vermissen. Dann wäre nämlich das Auto ohne Fahrer, und ich würde in den nächsten Alleebaum krachen."
Er griff sich an den Kopf. "Autsch, das tut weh!"
Sie lachten beide lauthals.
Ein Porsche schoß aus dem Nichts von hinten heran.
"Scheiße! Der Depp überholt."
Ein Kombi kam ihnen entgegen, war schon ganz nahe.
Er trat auf die Bremse, um dem Raser das Einscheren zu erleichtern - umsonst.
Der Kombi wich nach rechts aus, kam aufs Bankett und geriet ins Schleudern. Reifen quietschten. Das Auto krachte seitlich mit der Schnauze an einen Baum, wirbelte herum und flog in die Wiese.
Der Porsche war verschwunden.
Er legte eine Vollbremsung hin, wendete und fuhr holpernd in die Wiese. Zwanzig Meter vom Wrack entfernt stoppte er, sprang heraus und rannte auf den Haufen Blech zu. Es stank nach Benzin.
Eine Frau saß reglos hinterm Steuer, den Kopf aufs Lenkrad gelegt. Der Airbag ließ gerade sein letztes Bißchen Luft ab.
Er riß die Tür auf. Sie ging ziemlich schwer, der ganze vordere Rahmen war verzogen.
"He, aufwachen!" Er klatschte der Frau leicht ins Gesicht. Sie stöhnte.
Seine Schwester tauchte auf. "Na los, hol sie raus!"
Er schüttelte den Kopf. "Lieber nicht. Wer weiß, ob sie eine Wirbelsäulenverletzung hat. Aber den Gurt mache ich auf, der stört."
Ein Auto hielt an der Straße. Er schickte sie hin, dem Fahrer zu sagen, daß er Hilfe holen sollte.
Etwas knisterte. Dann ein dumpfes Puffen. Flammen schlugen aus der Motorhaube.
"Scheiß auf Wirbelsäule." Er packte die Frau unter den Armen, versuchte ihren Kopf in seiner Achsel zu stützen und zog sie heraus. Sie stöhnte auf. Ihr Bein war eingeklemmt.
Das Feuer wurde stärker. Schwarzer Qualm drang unter der Haube hervor. Früher oder später mußte der Tank explodieren. Er riß mit Gewalt an der Frau. Sie schrie vor Schmerz, aber er bekam sie frei. Lieber eine ordentliche Fleischwunde als verbrennen.
Seine Schwester kam. Sie packte die blutenden Füße und gemeinsam schleppten sie die wimmernde Frau von dem Wrack weg.
Sie legten die Frau in die Wiese. Sie warf den Kopf hin und her, dann zuckte sie plötzlich hoch. "Mein Sohn!"
Sein Magen krampfte sich zusammen. Der Wagen brannte schon lichterloh.
"Im Auto?"
Die Frau nickte. "Hinten."
Er rannte auf das Feuer zu. Seine Schwester schrie, aber er hörte nicht hin.
Die Tür war glühend heiß. Sie verbrannte ihm die Hand. Vor Schmerz schreiend riß er die Hintertür auf.
Ein Kindersitz lag zwischen dem Beifahrersitz und der Rückbank, darin ein Baby. Ein paar zerbrochene Flaschen lagen daneben.
Der Rauch nahm ihm den Atem und biß in den Augen. Er kam sich vor wie in einem Hochofen.
Die Halterungen am Kindersitz waren gerissen. Er packte den Sitz mit seinen verbrannten Händen und wandte sich um.
Er kam keine fünf Meter weit.
Die Explosion war ohrenbetäubend.
Die Faust eines Riesen schlug ihm ins Kreuz und warf ihn nach
vorne.
Er drückte den Kindersitz ganz fest an sich.
Wie langsam er flog. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er mit der Schulter auf den Boden schlug.
Er krümmte sich um das Baby, schützte es mit seinem Körper während er über die Wiese rollte.
Eine Lanze schien in seinem Rücken zu stecken. Eine Lanze aus Feuer.
Das Gesicht seiner Schwester erschien über ihm. Sie schrie irgendwas. Er konnte nach dem Knall nichts hören.
Er hielt ihr das Kind hin. Sie nahm es und trug es zu seiner Mutter.
Verschwommen sah er, wie die Frau ihr Kind in die Arme schloß.
Seine Schwester kam zurück.
Er wollte sich auf den Rücken rollen, doch ein höllischer Schmerz stoppte ihn und ließ ihn aufschreien.
Seine Schwester sah auf seinen Rücken.
Er hatte noch nie solches Entsetzen in ihren Augen gesehen.
Er nahm all seine Kraft zusammen. "Was ist da?"
Leise, ganz weit weg durch das Dröhnen in seinem Kopf, hörte er sie sagen: "Eine Flasche. Nicht bewegen!"
Sie kniete neben ihm nieder.
Ein grauen Schleier legte sich über sie. Sie wurde so undeutlich.
Etwas tropfte auf sein Gesicht. Ihr Körper zuckte.
"Nicht weinen." Er zwang ein verkrampftes Lächeln auf sein Gesicht. "Weißt doch: Unkraut vergeht nicht."
Sie nahm seine Hand. "Halt durch, nur noch ein bißchen."
Sein Blick wurde plötzlich klar. Er sah die Frau, wie sie ihr Baby im Arm wiegte. Er sah das tränennasse Gesicht seiner Schwester vor dem strahlend blauen Himmel. Er fühlte auch die Flasche in seinem Rücken. Sie steckte tief drin. Zu tief.
Aber es tat nicht mehr weh. Er wußte, warum.
Er sah sie an.
Sie verstand. "Nein!"
Er lächelte, sah irgendwie glücklich aus.
"Doch. Aber es macht nichts. Jetzt habe ich gelebt."
Er wies mit den Augen auf die Frau und ihr Kind. Das Kind schrie. Laut und kräftig.

"Siehst du? Ich habe gelebt."

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