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Dornen der Zeit

Die Zeit tropfte wie zäher Honig. Die Zeiger wollten einfach nicht schneller von einer Sekunde zur nächsten springen. Julia hatte das Gefühl, dass sie an dem Ziffernblatt klebten und sich nicht trauten einen Schritt in die Zukunft zu tun. Sie seufzte und schaute zum dritten Mal in fünf Minuten auf ihre Uhr. Wie lange sollte dieser staubtrockene Vormittag in der Vergangenheit denn noch dauern? Sie folgte ihren Mitschülern in den nächsten Raum, in dem ihr Museumsführer mit einem neuen Vortrag begann. Sie gähnte hinter vorgehaltener Hand und sah sich gelangweilt um. Die Besitzer des Schlosses hatten das Mobiliar so aufgestellt, dass es sich mit der allgemeinen Vorstellung des Turmzimmers in dem Märchen Dornröschen deckte. Julia fand das irgendwie albern und sie glaubte auch nicht, dass Dornröschen in diesem Schloss gelebt hatte, wie es auf großen Schildern überall in Schloss Sababurg verkündet wurde. Sie war gerade mit ihrer Klasse auf einem Tagesausflug mit ihrem Geschichtslehrer und kam sich vor wie im Kindergarten. Sie wollte einfach nur nach Hause und ihre Ruhe haben.
Genervt blieb sie im Raum, während die Klasse lärmend weiterzog. Langsam strich sie mit den Fingern über die Schränke. In einer Vitrine war die Spindel ausgestellt, an der sich Dornröschen angeblich gestochen hatte. Plötzlich hörte Julia hinter sich ein Geräusch und zuckte erschrocken zusammen. Doch als sie sich umdrehte, stand da nur eine ältere Frau, die sie vorwurfsvoll anstarrte. Erleichtert atmete Julia aus, für einen Moment hatte sie wirklich geglaubt, dass Geister aus längst vergangenen Zeiten um die Vorhänge strichen. Verärgert über sich selbst schüttelte sie den Kopf. Die Frau winkte sie mit einer energischen Geste aus dem Raum und sagte dabei streng, „Du hast hier alleine nichts verloren. Los, geh wieder zu den anderen.“ Julia folgte ihr widerwillig.
Grummelnd verschwand die Frau, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Julia um die Ecke gebogen war. Trotzig drehte diese sich um und kehrte zu dem Dornröschenraum zurück. Wenn sie sich hier schon langweilen musste, würde sie wenigstens selbst bestimmen, in welchem Raum sie das tat. Sie setzte sich neben das Bett auf den Boden, sodass sie von der Tür aus nicht zu sehen war und tastete nach ihrem Handy. Mist, dachte sie, als sie es vergeblich in ihrer Jackentasche suchte. Sie hatte es zuhause auf dem Küchentisch liegen lassen, nachdem sie wutentbrannt aus der Wohnung gestürmt war und die Tür zugeknallt hatte.
Stille senkte sich über den Raum und Julia schloss die Augen. Die Luft fühlte sich staubig an und man konnte einen Hauch von Vergangenheit spüren. Als würde jeden Augenblick eine Fanfare ertönen und Ritter und Mägde durch die Flure huschen. Julia musste lächeln und meinte fast den Geruch von vertrockneten Rosen wahrzunehmen. Plötzlich hörte sie einen Schlüssel im Schloss und sprang auf. Schritte entfernten sich hallend vom Zimmer und Julia versuchte vergeblich die Tür zu öffnen. Sie hämmerte gegen das raue Holz und rief nach ihren Mitschülern. Doch es kam keine Reaktion zurück. Wütend rannte sie zum Fenster und versuchte es aufzureißen. Vergeblich. Sie tobte und schrie noch eine Weile, bis ihre klar wurde, dass sie sich damit nur die Stimme ruinierte. Die Schlossmauern waren viel zu dick, als dass sie jemand hören würde. Verzweifelt ließ sie sich auf das Bett sinken. Dann musste sie eben bis morgen warten.
Minute für Minute verstrichen, ohne dass etwas passierte. Mal tigerte Julia vom Bett zur Tür, mal vom Fenster zum Schrank. Es machte sie wahnsinnig, dass sie nichts tun konnte. Hätte sie wenigstens ihr Handy mit, um sich bemerkbar zu machen oder eine Beschäftigung zu haben. Aus Langeweile begann sie nach einiger Zeit alle Schränke zu öffnen. Doch jeder von ihnen war leer oder verschlossen. Sie schaute unters  Bett und versuchte die Vitrine zu öffnen, um vielleicht einen Alarm auszulösen und so jemanden zu ihr zu lotsen. Zu ihrer großen Überraschung glitt der Glaskasten spielend leicht von dem Podest, ohne dass ein Ton erklang. Sie nahm die goldene Spindel aus ihrer Halterung und ließ ihre Finger über die Verzierungen gleiten. Als sie neugierig  über die spitze Nadel strich, merkte sie, dass diese stumpf war. War ja klar, dass es eine Fälschung ist, dachte sie verächtlich, und noch nicht einmal eine gute. Mit einem Mal knickte die Nadel ab und Julia holte erschrocken Luft. Das würde Ärger geben. Sie schaute trotzdem in das entstandene Loch. Darin befand sich ein Schlüssel. Aufgeregt schüttelte sie ihn in ihre Hand und lief zur Tür. Doch Fehlanzeige – er passte nicht. Enttäuscht ging sie zurück zur Vitrine und legte die Spindel zurück. Dann probierte sie die abgeschlossenen Schrankfächer aus. In der untersten Schublade des letzten Schrankes war sie erfolgreich. Der Schlüssel passte. Darin lag eine Schatulle, die sich aber nicht mit dem Schlüssel öffnen ließ. Julias Spürsinn war geweckt. Sie holte die Spindel und brach auch die andere Nadel ab. Wie sie sich gedacht hatte – ein zweiter Schlüssel. Dieser passte in das Schloss der Schatulle. Julia drehte ihn um und öffnete den Deckel.
Auf einmal wurde die Tür des Raumes aufgestoßen und der Museumsführer stürmte, dicht gefolgt von ihrem Geschichtslehrer, in den Raum. Vor Schreck glitt ihr die Schatulle aus der Hand und sie versuchte geistesgegenwärtig ihren Inhalt festzuhalten. Da durchfuhr sie ein stechender Schmerz. Als sie auf ihre Hände schaute, sah sie eine kleine, glitzernde Spindel, nicht größer als ein Hühnerei. Ein einzelner Blutstropfen rann langsam ihren Finger hinunter. Sie schaute auf und sah ihren Lehrer an. Er war mitten in der Bewegung erstarrt, das Gesicht zornesrot verzogen. Julia lieb der Mund offen stehen vor Überraschung. Was war das? Träumte sie? Sie kniff die Augen zusammen, weil ihr plötzlich schwindelig wurde. Sie musste sich auf das Bett legen. Ihre Augenlider wurden schwer. Das konnte doch nicht wahr sein. Das alles war ein Märchen. Ein bescheuertes, uraltes Märchen, das Kindern als Gutenachtgeschichte vorgelesen wurde. Nicht mehr und nicht weniger. Auf keinen Fall war irgendetwas Wahres daran. Das konnte gar nicht sein. Trotzdem ließ sich nicht leugnen, dass ihr Geschichtslehrer in ein und derselben Position verharrte, dass die Zeiger ihrer Uhr stillstanden und  sie kurz davor war, einzuschlafen. Verzweifelt versuchte sie wach zu bleiben, obwohl es aussichtslos schien. Sie bekam Panik, sie wollte nicht für hundert Jahre in diesem blöden Schloss versauern. Verzweifelt legte sie ihren Finger auf die Wunde und drückte, so fest sie konnte.
Mit einem Mal hatte sie wieder die Kontrolle über ihre Augen. Sie blinzelte ein paar Mal, aber die Müdigkeit war wie verflogen, als hätte es sie nie gegeben. Doch, als sie den Finger von der Wunde nahm, klappten ihre Augenlider wieder hinunter. Schnell presste sie ihren Finger ein weiteres Mal darauf, bis die Blutung aufhörte. Vorsichtig ließ sie los und war erleichtert, als nichts passierte. Mit wackeligen Beinen stand sie vom Bett auf und trat an ihren Lehrer heran. Sie hielt ihm die Hand vor den Mund und zu ihrer Erleichterung spürte sie einen warmen Luftzug. Sie tippte ihn an. Nichts passierte. Sie schrie ihn an. Er regte sich immer noch nicht. Sie vollführte einen Tanz vor seinen Augen, beleidigte ihn, kniff ihn ins Ohr, er zeigte keine Reaktion. Sie musste kichern und fühlte sich so aufgeregt als wäre sie wieder sieben und wartete sehnsüchtig darauf, dass das Christkind ihr Geschenke brachte. Sie wirbelte durch das Schloss und sah überall die Zeichen, die die Wahrheit des Märchens zeigten: Kein Lufthauch regte sich. Julia sah Fliegen, die an der Wand erstarrt waren, Staub hing mitten im Fallen in der Luft und alle Menschen, denen sie begegnete, schliefen einen hundertjährigen Märchenschlaf.
Nachdem sie genug davon hatte, sich alles anzusehen und über das Wunder zu staunen, dass sich vor ihren Augen abspielte, dachte sie darüber nach, was sie jetzt damit anfangen könnte. Sollte sie nach Hause gehen und die anderen einfach hier zurücklassen? Konnte sie so grausam sein? Obwohl manche es wirklich verdient hatten. Wenn sie allein daran achte, was passiert war, als sie um zehn Uhr hier angekommen war… Kaum hatte sie die Uhrzeit in Gedanken ausgesprochen, drehte sich alles um sie herum und in ihre Umgebung kam Bewegung. Leute liefen rückwärts an ihr vorbei, und sprachen in unverständlichen Worten. Erschrocken drängte sie sich gegen die Wand, während alles schneller wurde, bis es plötzlich stoppte und sie ihre Klasse im Eingangsbereich des Schlosses stehen sah. Einige schauten irritiert zu ihr herüber und Herr Bauer rief ihr zu, „Julia, kommst du bitte auch zu uns? Unsere Führung geht gleich los.“ Wie in Trance bewegte sie sich zu ihrer Klasse und stellte sich dazu. Herr Bauer begann mit einem Vortrag über das Mittelalter. Julia wurde stutzig, hatte er den nicht heute schon einmal gehalten? Und da fiel der Groschen. Sie hatte tatsächlich die Zeit zurückgedreht. Wahnsinn. Sie riss die Augen auf. Wahrscheinlich lag sie einfach in ihrem Bett und träumte das alles. Es konnte einfach nicht wahr sein. Um es auszuprobieren, dachte sie an die Zeit zu der ihre Klasse in dem Dornröschenzimmer gewesen war. Blitzschnell wurde die Zeit vorgespult. Herr Bauer redete so hastig, dass Julia nichts verstand. Alle bewegten sich auch viel schneller, worüber sie lachen musste. Es sah genauso aus, als würde sie eine DVD vor oder zurück spulen. Nur live und in 3D. Sie probierte ihre neue Fähigkeit noch ein paar Mal aus, bis sie wieder zur Gegenwart wechselte. Sie strich noch ein wenig durch das Schloss. Nach ein paar Stunden beschloss sie nach Hause zu gehen und am nächsten Tag wieder zu kommen.
Als sie aus dem Portal trat, mussten sich ihre Augen erst wieder an das Tageslicht gewöhnen. Julia atmete tief ein und genoss die warme Sonne auf der Haut. Als sie sich jedoch zum Schlosstor umdrehte, erlebte sie eine böse Überraschung. Die komplette Schlossmauer war überwuchert von Dornenranken. Rosen strahlten ihr mit sattem Rot entgegen, als ob sie sie mit ihrer vollkommenen Schönheit verspotten wollten. Die Ranken waren so fest miteinander verwebt, als würden sie einander festhalten. Julia versuchte erst gar nicht, sie auseinander zu biegen. Jeder Quadratzentimeter der Mauer war unpassierbar. Resigniert setzte sie sich auf die Wiese zwischen Portal und Tor und spulte die Zeit vor. Zu ihrem Entsetzten passierte gar nichts. Nichts regte sich, kein Vogel flog über den Himmel, keine Wolke über dem Schloss bewegte sich. Die Zeit hielt hundert Jahre den Atem an. Julia begann zu zittern. Tränen rannen über ihre Wangen und tropften im Einklang mit dem Klopfen ihres Herzens, das feenfluchvergiftetes Blut durch ihre Adern pumpte, auf den Boden. Der Tag verstrich wie Atem im Wind und man konnte die Dornenhecke wachsen sehen, als ob Julias Verzweiflung sie nähren würde. Die Blätter rankten sich umeinander und trieben rote Blütentränen. Es wurde Nachmittag, es wurde früher Abend und die Dämmerung setzte ein. Die Türme des Schlosses wurden in rotes Licht getaucht, als die Sonne unterging.
Julia war es so, als hörte sie knirschende Schritte auf Kies. Das kann nicht sein, redete sie sich selber ein und verharrte in der Position, in der sie seit ungefähr einer Stunde saß. Sie war selbst erstaunt darüber, wie gut sie plötzlich die Zeit messen konnte. Die Schritte verklangen und stattdessen hörte sie eine Stimme, die dünn durch die Dornenhecke drang. „Julia?“, rief sie. Es war die Stimme, die sie unter tausenden wiedererkannt hätte und sie konnte nicht glauben, dass sie es wirklich war. „Ich bin hier“, schrie sie. Ihr war jetzt alles egal, auch, wenn sie fantasierte. Sie sprang auf und lief zum Tor. Doch durch die Dornen konnte sie nichts sehen. Die Schritte setzten wieder ein und die Stimme schimpfte, „Was ist das denn? Ich glaube die brauchen hier mal einen neuen Gärtner oder so.“ Julia meinte schon den Besitzer der Stimme berühren zu können, als plötzlich die Dornen von den Ranken abfielen und stattdessen hunderte bunter Blumen sprießten. Eine Hand schob sich hindurch und sie ergriff sie zaghaft. Dann erschien ein Gesicht zwischen den Blüten, das sie zärtlich musterte. Die Hände zogen sie zu sich und während sie sich unter dem Blumenteppich küssten, stand eine Gestalt auf dem höchsten Erker des Schlosses, eine Spindel in der Hand und lächelte.
Marie

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