Ich könnte näher an dich ranrücken, doch ich will es nicht, weil ich nicht weiß wie ich mit der Situation umgehen soll. Ich fühle mich so hilflos.
Du scheinst zu schlafen.
Vielleicht sollte ich einfach wieder gehen. Draußen scheint die Sonne. Dort ist es so schön. Hier nicht. Ich höre jemanden auf einen der anderen Zimmern schreien. Ich fühle die Angst und einen Kloß in meinem Hals hochsteigen.
Du öffnest kurz die Augen. "Du bist ja da", murmelst du und schläfst direkt wieder ein. Wahrscheinlich liegt das an den Medikamenten.
Ich bin froh darüber, weil ich mir so keine Gedanken darüber machen muss, was ich mit dir reden soll. Was soll ich dir sagen, wenn du noch mal wach wirst. Einfach über irgendetwas plaudern?
Ich habe mal in einem Artikel gelesen, dass man Sätze wie "Nun lach doch mal" oder "Denk doch mal an etwas schönes" vermeiden sollte.
Ich schaue dich an und erinnere mich.
Wir hatten uns zufällig auf einer Feier kennen gelernt.
Ich habe dich gemocht vom ersten Augenblick an. Du bist anders als die anderen. Du warst von Anfang an wie ein kleiner Bruder für mich. Wir haben stundenlang zusammen Fernsehen geschaut und dabei kiloweise Popcorn gegessen. Wir konnten über dieselben Witze lachen und wir mochten beide das Lesen so gerne. Wir haben dutzendweise Bücher untereinander ausgetauscht.
Manchmal lagen wir auch nur zusammen am Rhein und haben Wolkentiere geraten.
Wir waren beide Single und haben immer wieder versucht uns zu verkuppeln, weil wir uns das Glück gönnten. Irgendwann beschlossen wir, sollten wir einmal heiraten, wirst du mein Trauzeuge und ich deiner.
Aber wie es wirklich am Ende in dir ausgesehen hat, habe ich nie geahnt. Du warst immer schon sehr introvertiert, aber das bin ich auch.
Ich habe mir nichts dabei gedacht, dass deine Wohnung immer so chaotisch aussah. Ich bin schließlich auch nicht die Ordentlichste.
Manchmal konnte ich tagelang telefonisch nicht erreichen. Du sagtest mir dann, dass du deine Eltern besucht hast. Doch bei deinen Eltern warst du nie.
Es kam mir nicht seltsam vor, dass du immer öfter keine Wolkentiere raten gehen wolltest.
Ich dachte mir, dass bestimmt eine Frau dahintersteckt und habe es dir gegönnt.
Ich habe es nicht bemerkt, dass du irgendwann angefangen hast beim Fernsehen kein Popcorn mehr zu essen, und dass deine Augen nicht den Film gesehen haben.
Ich habe nicht geahnt wir es wirklich in dir ausschaut und ich schäme mich dafür. Hätte ich es nicht merken müssen, kleiner Bruder?
Ich dachte alles wäre gut, bis an dem Tag an dem du versucht hast dich mit einem Kabelbinder zu erdrosseln.
Du öffnest wieder die Augen.
"Du bist ja immer noch da", sagst du, und für einen Moment glaube ich in deinen Augen zu sehen, dass du dich darüber freust.
Ich nehme meinen Stuhl und rücke näher.