Ich werde dir immer verzeihen
Joni Eareckson Tada
Aus: Tell Me The Promises
Lisa saß auf dem Fußboden in ihrem alten Zimmer und starrte auf die Schachtel, die vor ihr stand.
Es war ein alter Schuhkarton, den sie schon vor vielen Jahren mit hübschem Papier beklebt hatte,
um ihn als Schachtel für Andenken zu benutzen. Der Deckel und die Seiten waren mit Stickern
und gemalten Blumen beklebt. Die Kanten waren schon abgenutzt, und die Ecken des Deckels
immer wieder geklebt worden, damit er überhaupt noch zusammen hielt.
Es war jetzt schon drei Jahre her, dass Lisa die Schachtel zum letzten Mal geöffnet hatte.
Ein plötzlicher, überstürzter Umzug nach Boston hatte sie daran gehindert, sie einzupacken. Aber
jetzt, wo sie wieder zu Hause war, nahm sie sich Zeit, ihre Andenken und Erinnerungsstücke noch
einmal anzuschauen.
Die Ecken der Schachtel befühlend stellte sich Lisa den Inhalt des Kartons vor.
Da war ein Foto von einem Familienausflug zum Grand Canyon, ein Zettel von einer
Freundin, auf dem stand, dass Nick Bicotti Lisa gern hätte, sowie eine Indianerpfeilspitze, die sie
auf der Abschlussfahrt in der Oberstufe gefunden hatte.
Nach und nach erinnerte sie sich an jeden einzelnen Gegenstand in der Schachtel und
blieb in Gedanken ein Weilchen bei den Lieblingsstücken, bis sie zu der letzten und einzigen
schmerzlichen Erinnerung kam. Sie wusste, wie der Gegenstand aussah – es war ein Blatt Papier,
auf dem Linien gezogen worden waren, so dass Karos entstanden – 490 solcher Karos, um genau
zu sein. Jedes Karo war mit einem Kreuz versehen.
„Wie oft muss ich meinem Bruder vergeben?“, hatte der Jünger Petrus Jesus gefragt.
„Sieben Mal?“ Lisas Sonntagsschulleiterin hatte die verblüffende Antwort von Jesus auf diese
Frage vorgelesen: „Siebzig mal sieben Mal.“
Lisa hatte sich daraufhin zu ihrem Bruder Brent hinüber gelehnt, während die Leiterin
weiter las, und ihn flüsternd gefragt: „Wie oft ist das?“ Obwohl Brent zwei Jahre jünger war als sie,
wusste er viel mehr.
„Vierhundertneunzig“ hatte Brent damals auf eine Seite seines Arbeitsblattes geschrieben.
Lisa hatte die Zahl gesehen und genickt. Während der Unterricht weiter ging, beobachtete
sie ihren Bruder. Er war ziemlich klein für sein Alter, hatte schmale Schultern und kurze Arme.
Seine Brille war zu groß für sein Gesicht, und sein Haar stand wegen der vielen Wirbel strubbelig
vom Kopf ab. Er war hart an der Grenze zum typischen Streber, aber durch sein unglaubliches
Können in allen möglichen Bereichen, besonders auf musikalischem Gebiet, war er trotzdem
beliebt bei seinen Klassenkameraden.
Mit vier Jahren hatte Brent Klavierspielen gelernt, mit sieben Klarinette und seit kurzem
hatte lernte er Oboe. Seine Musiklehrer sagten ihm eine große Zukunft als Musiker voraus. Es gab
nur eine Sache, die Lisa besser konnte als Brent – Basketballspielen. Sie spielten fast jeden
nachmittag nach der Schule. Brent hätte sich auch weigern können, aber er wusste, dass dieses
Spiel Lisas einzige Freude im täglichen Kampf um Dreier und Vierer in der Schule war.
Lisa merkte erst wieder, dass sie ja in der Sonntagsschule war, als die Lehrerin die Stunde
mit einem Gebet abschloss. An diesem Sonntag spielten die Geschwister nachmittags auf der
Hauseinfahrt Basketball. Brent versuchte, Lisa wegzudrücken, während sie auf den Korb
zudribbelte. Er hatte versucht, den Ball wegzuschlagen und war dabei mit dem Gesicht in die
Nähe ihres Ellenbogens geraten, so dass er einen harten Stoß ins Gesicht abbekommen hatte.
„Aua!“, rief er laut und drehte sich weg.
Lisa erkannte ihre Chance, rannte zum Korb und versenkte den Ball mühelos. Sie strahlte
über ihren Erfolg, hielt aber inne, als sie ihren Bruder sah. „Alles in Ordnung?“, fragte sie. Aber
Brent zuckte nur die Schultern.
„Tut mir leid. Verzeih mir“, sagte Lisa. „Das war wirklich ein leichter Schuss.“
„Ist schon in Ordnung und vergeben“, sagte er, und dann huschte ein Lächeln über sein
Gesicht. „Allerdings bleiben jetzt nur noch 489 Mal übrig.“
„Was soll´n das heißen?“, fragte Lisa.
„Du weißt doch noch, was wir heute in der Sonntagsschule gelernt haben, oder? Man soll
490 Mal vergeben. Ich habe dir gerade vergeben, bleiben also nur noch 489 Mal übrig,“ scherzte
er.
Beide lachten über den Gedanken, genau Buch zu führen über die einzelnen Male, die Lisa
Brent etwas angetan hatte. Sie waren beide sicher, dass sie die 490 Mal schon lange
ausgeschöpft hatte.
Es fing an zu regnen, sodass sie ihr Spiel abbrechen und ins Haus gehen mussten.
„Wollen wir Schiffe versenken spielen?“, fragte Lisa den Bruder. Brent erklärte sich einverstanden,
und schon bald lagen sie auf dem Wohnzimmerboden, jeder das Spielblatt vor sich. Abwechselnd
nannten sie eine Zahlen- und Buchstabenkombination, immer in der Hoffnung, einen Treffer zu
landen.
Lisa merkte im Laufe des Spieles, dass sie unter Druck geriet, denn Brent hatte erst eins
von fünf Schiffen verloren, während sie nur noch zwei übrig hatte. Weil sie unbedingt gewinnen
wollte, spähte sie ganz vorsichtig und unauffällig über den Sichtschutz, den Brent um sein Blatt
errichtet hatte. Mit einem Blick entdeckte sie, wo Brent zwei seiner Schiffe platziert hatte, und
konnte deshalb schnell den Ausgleich erzielen.
Hoch zufrieden, spähte Lisa ein weiteres Mal nach der Position der letzten beiden Schiffe,
aber diesmal ertappte Brent sie auf frischer Tat.
„Hey, du betrügst ja!“, sagte er und starrte sie ungläubig an.
Lisa wurde rot, und ihre Lippen begannen zu zittern. „Es tut mir Leid“, sagte sie betreten,
den Blick auf den Teppichboden geheftet. Was sollte Brent sagen. Er wusste, dass Lisa manchmal
so war. Sie tat ihm Leid, weil es nur so wenige Dinge gab, die sie wirklich gut konnte. Es war zwar
nicht richtig, dass sie schummelte, aber er wusste, dass die Versuchung für sie groß war.
„Also gut, ich vergebe dir“, sagte Brent, und fügte dann leise lachend noch hinzu. „Aber
damit sind jetzt leider nur noch 488 Mal übrig.“
„Ja, das stimmt wohl“, entgegnete sie und fügte dann mit einem fast scheuen Lächeln noch
hinzu: „Schön, dass du mein Bruder bist, Brent.“
Dass Brent bereit war, ihr immer wieder zu vergeben, rührte Lisa, und sie wollte ihm
irgendwie zeigen, wie dankbar sie ihm dafür war. Deshalb hatte sie an diesem Abend die Tabelle
mit den 490 Kästchen gezeichnet und sie ihm vorm Zubettgehen gezeigt.
„So können wir Buch führen über jedes Mal, wenn ich Mist gebaut habe und du mir
vergeben hast“, sagte sie. „Guck mal, ich streiche jedes Mal so mit einem Kreuz das Kästchen
ab.“ Dabei machte sie ein Kreuzchen in die beiden ersten Kästchen ganz links oben in der ersten
Reihe. „Diese beiden sind für heute.“
Brent hob protestierend die Hand. „Du brauchst doch nicht ...“
„Doch, das will ich aber!“, unterbrach Lisa ihn. „Du vergibst mir andauernd, und ich möchte
dabei einfach nur auf den Laufenden bleiben. Lass mich doch!“ Sie ging wieder auf ihr Zimmer
und heftete die Tabelle an ihre Pinwand.
Es gab in den darauffolgenden Jahren genügend Gelegenheiten, Kästchen abzustreichen.
Einmal hatte sie in der Schule herumerzählt, Brent hätte im Schlaf geredet und laut Rhonda Hills
Namen gerufen, obwohl das gar nicht stimmte. Dieser üble Scherz hatte Brent tagelange
Hänseleien seiner Mitschüler eingebracht, unter denen er sehr gelitten hatte. Als ihr klar wurde,
wie grausam sie gewesen war, hatte Lisa sich ernsthaft bei ihrem Bruder entschuldigt. An dem
Abend hatte sie Kästchen Nummer 98 abgestrichen. Vergebung Nummer 211 wurde in der
zehnten Klasse gewährt, als Lisa vergessen hatte, Brents Englischbuch mit nach Hause zu
bringen. Er hatte nicht zur Schule gehen können, weil er krank war, und sie deshalb gebeten, das
Buch mitzubringen, damit er für einen Test lernen konnte. Sie hatte es vergessen, mit der Folge,
dass er nur ein Vier bekam.
Nr. 393 war für einen verlorenen Schlüssel ... 418 dafür, dass sie beim Waschen sein
Lieblings T-Shirt verfärbt hatte ... 449 für die Beule, die sie in sein Auto gefahren hatte, als sie es
sich einmal ausgeliehen hatte.
Im Rahmen einer kleinen Zeremonie hatte Lisa Kästchen Nr. 490 abgestrichen. Sie hatte
das Kreuz mit einem Goldstift gemacht, dann die Tabelle von Brent unterzeichnen lassen und sie
in ihre Andenkenschachtel gelegt.
„Das wärs dann wohl“, sagte Lisa. „Jetzt kann ich mir keine Fehler und Pannen mehr
erlauben!“
Brent lachte nur. „Stimmt genau!“
Nummer 491 war auch eine von Lisas Unachtsamkeiten, aber der Schmerz darüber sollte
ihr ganzes Leben lang anhalten. Brent hatte die Vorhersagen seiner Musiklehrer bestätigt. Es gab
nur wenige Musiker, die so gut Oboe spielen konnten wie er, und deshalb bekam er in seinem
letzten Studienjahr an einer der besten Musikhochschulen des Landes die Chance seines Lebens
– nämlich beim großen Orchester von New York City vorzuspielen.
Das Vorspiel sollte irgendwann im Laufe der folgenden zwei Wochen stattfinden und stellte für
Brent die Erfüllung aller seiner Träume dar. Doch er bekam nie die Chance. Brent war nämlich
nicht zu Hause, als der Anruf wegen des Vorspieltermins kam.
Lisa war allein zu Hause, allerdings in Eile und schon auf dem Weg zur Haustür, weil sie
an diesem Morgen spät dran war und sich beeilen musste, um noch pünktlich zur Arbeit zu
kommen.
„14.30 am Zehnten“, hatte die Sekretärin am Telefon gesagt. Lisa hatte keinen Stift zur
Hand, aber sie sagte sich, das würde sie sich auch so merken können.
„Alles klar, vielen Dank“, sagte sie und war sich ganz sicher, es nicht zu vergessen. Sie
irrte sich. Eine Woche später beim Abendessen erinnerte sie sich wieder und erkannte, was sie
angerichtet hatte.
„Also Brent, wann ist denn nun dein Vorspiel?“, fragte die Mutter.
„Das weiß ich noch nicht. Sie haben gesagt, wie würden anrufen.“
Bei diesen Worten erstarrte Lisa förmlich.
„Oh neeeiiin!“, platzte sie heraus. „Welches Datum haben wir heute? Schnell!“
„Heute ist der zwölfte“, antwortete ihr Vater. „Wieso?“
Ein furchtbarer Schmerz schoss Lisa durchs Herz. Sie senkte den Kopf und brachi n
Tränen aus.
„Was ist denn los, Lisa?“,fragte ihre Mutter.
Schluchzend erklärte Lisa, was passiert war. „Es war vor zwei Tagen ... das Vorspielen ...
14.30 Uhr ... der Anruf .... kam letzte Woche.“
Brent lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und glaubte Lisa kein Wort. „Ist das wieder einer
von deinen Scherzen, Schwesterherz?“, fragte er, obwohl er merkte, dass ihr Kummer echt war.
Sie schüttelte den Kopf, immer noch unfähig, ihm ins Gesicht zu sehen.
„Dann habe ich es also wirklich verpasst?“ Sie nickte.
Brent stürmte wortlos aus der Küche. Er kam auch für den Rest des Abends nicht aus
seinem Zimmer heraus. Lisa unternahm einen Anlauf, an seine Zimmertür zu klopfen, aber sie
schaffte es einfach nicht, ihm gegenüberzutreten. So ging sie auf ihr Zimmer, wo sie nur noch
weinen konnte.
Plötzlich wusste sie, was sie zu tun hatte. Sie hatte Brents Leben ruiniert, und das würde er
ihr niemals vergeben können. Sie hatte ihrer Familie gegenüber versagt, und ihr blieb nichts
anderes übrig, als einfach zu verschwinden. Lisa packte noch in derselben Nacht das
Notwendigste in ihren Kombi und hinterließ ihrer Familie eine Nachricht, dass sie schon zurecht
kommen würde. Sie fing auch noch einen Brief an Brent an, aber das, was sie schrieb, klang in
ihren eigenen Ohren nur hohl. Worte konnten ohnehin nichts mehr ändern, dachte sie bei sich.
Zwei Tage später hatte sie einen Job als Kellnerin in Boston und fand auch schnell eine
Wohnung ganz in der Nähe des Restaurants. Ihre Eltern versuchten häufig, mit ihr Kontakt
aufzunehmen, aber Lisa ignorierte ihre Briefe.
„Es ist zu spät“, schrieb sie ihnen ein einziges Mal. „Ich habe Brents Leben zerstört. Ich
komme nicht zurück.“
Lisa glaubte nicht, ihr Zuhause jemals wiederzusehen. Eines Tages entdeckte sie jedoch in
dem Restaurant, in dem sie arbeitete, ein bekanntes Gesicht: „Lisa!“, sagte Mrs. Nelson, als sie
von ihrem Teller aufblickte. „Das ist ja eine Überraschung.“
Die Frau war eine Freundin von Lisas Familie. „Es hat mir so Leid getan, als ich das mit
deinem Bruder erfahren habe“, sagte Mrs. Nelson leise. „So ein schrecklicher Unfall. Nur tröstlich,
dass er wenigstens nicht leiden musste.“
Lisa konnte die Frau nur völlig schockiert anstarren. „W-was?“, stammelte sie schließlich.
Das war doch nicht möglich! Ihr Bruder? Tot?
Die Frau merkte rasch, dass Lisa nichts von dem Unfall wusste. Sie erzählte der jungen
Frau deshalb, wie es dazu gekommen war, dass er sofort ins Krankenhaus gekommen sei und die
Ärzte dort ihr Möglichstes für Brent getan hätten. Man habe ihn aber trotzdem nicht retten können.
Am Nachmittag desselben Tages kehrte Lisa nach Hause zurück.
Und jetzt saß sie in ihrem Zimmer und dachte über ihren Bruder nach, während sie die
Schachtel auf dem Schoß hatte. Traurig nahm sie den Deckel von der Schachtel und warf einen
Blick hinein. Es war alles so, wie sie es in Erinnerung hatte, außer einem Gegenstand – Brents
Tabelle. Sie war nicht mehr da. An ihrer Stelle lag ganz unten in der Schachtel ein Briefumschlag.
Ihre Hände zitterten, als sie den Umschlag aufriss und einen Brief herauszog.
Auf der ersten Seite stand:
Liebe Lisa,
du warst es, die weiter gezählt hat, nicht ich. Aber wenn du so stur bist, weiter zu zählen,
verwende bitte die neue Tabelle, die ich für dich gemacht habe.
In Liebe
Brent
Lisa schaute sich jetzt die zweite Seite an, auf der eine Tabelle war, die genau so aussah wie die,
die sie als Kind gezeichnet hatte, nur dass jetzt die Linien fein säuberlich mit dem Lineal gezogen
waren. Und im Unterschied zu der Tabelle, die sie aufbewahrt hatte, gab es nur ein einziges
Kreuzchen ganz oben links in dem Kästchen. Mit rotem Filzstift waren über die gesamte Seite die
Worte geschrieben:
Nummer 491. Für immer vergeben