It's time to run far, far away.
[…] Ich griff Sharons Hand. Wir rannten. Auf meinen Schultern trug ich meine große Tasche und das Zelt. Sie hatte ebenfalls noch 2 Taschen dabei. Sie waren prall gefüllt mit allem was man zum Überleben brauchte, wir wussten schließlich nicht, wann wir wiederkommen würden. Der Punkt an dem alles egal ist, war gekommen. Es ist einfacher zu rennen, als alles alleine durchzustehen. Zusammen wussten wir, dass wir es schaffen. Am Bahnhof suchten wir uns einen Zug der so weit wegfuhr, wie es mit unserem Ticket nur möglich war. Die Menschen die uns sahen, starrten uns verwirrt an. Obwohl es weh tat zu gehen, lächelten wir beide stolz. Glücklich waren wir, weil wir endlich all dem Stress entkommen konnten. Es hat Überwindung gekostet in den Zug zu steigen, doch wir taten es. Über die Zugfahrt schliefen wir, es war schließlich Nacht und wir brauchten Kraft für den nächsten Tag. Am Bahnsteig wussten wir nicht wo wir angekommen waren, aber das war in diesem Moment auch egal, wir hatten eh nicht vor dort zu bleiben, sondern unsere Reise zu Fuß fortzusetzen. Überglücklich gingen wir durch Straßen, über Wiesen und durch Wälder bis wir schließlich an einem Fluss angekommen waren. Zwischendurch fragte ich mich wo wir wohl waren, ich wusste, dass Sharon sich die selbe Frage stellte. Es waren schöne Tage, die wir in der Natur verbrachten und unheimliche Nächte in unserem Zelt, Hand in Hand, voller Angst vor dem was hinter den Bäumen und in den Büschen lauerte. Ich habe schon immer Angst vor der Dunkelheit gehabt, vor allem wenn ich mich draußen im Freien befand, aber Sharon war bei mir und zusammen wollten wir alle Gefahren, die uns noch erwarteten bestehen. Unser Ziel war es bis zum Meer zu kommen und ein komplett neues Leben anzufangen, deswegen gingen wir immer in die selbe Richtung, auch wenn wir dabei keine Ahnung hatten ob wir jetzt in den Süden, Osten, Westen oder Norden liefen. Auch das war uns egal, wir wollten einfach nur immer weiter weg und irgendwann an unser Ziel kommen, wie lange es auch dauern mochte. Wir wollten irgendwann auf den höchsten Bergen der Welt stehen und allen zeigen, dass wir frei sind. Wir wollten die schönsten Strände und Städte sehen und überall hingehen können, wo wir gerade Lust zu haben. Wir wussten, dass diese Zeit kommen würde und so träumte ich jede Nacht davon, was wir alles noch erleben würden. Es gab ein paar Tage an denen ich nicht mehr weiter wollte. Sie waren anstrengend, zu heiß oder zu kalt. Zwischen Sharon und mir gab es auch einige Auseinandersetzungen. Danach liefen wir immer schweigend nebeneinander her, aber nach spätestens 2 Stunden war wieder alles okay. Einen Tag werde ich niemals vergessen. Ich wollte ein bisschen alleine sein und so ging ich alleine im Wald spazieren. Sharon blieb im Zelt, sie wollte noch etwas länger schlafen um für den Tag fit zu sein. Ich ging ein Stück und setzte mich nach einer Weile an den Fluss. Ich starrte auf das Wasser. Es war das erste Mal nach einem Monat, dass ich alleine war und das erste mal, dass ich an Zuhause dachte. Ich wusste nicht einmal wo ich war. Am schlimmsten waren die Gedanken an meine Mutter. Sie machte sich sicherlich schreckliche Sorgen. Jeden Tag starb ihre Hoffnung, dass ich wiederkommen würde, mehr und mehr. Mein Bruder, der wahrscheinlich nicht mal gemerkt hatte, dass ich nicht mehr da bin und mein Vater, der wahrscheinlich die ganze Umgebung nach mir absuchte und abends in seinem Bett weinte. Unsere Lehrer, die sich wie immer dachten, dass wir schwänzen würden und unsere Freunde. Als wir alles planten und losgefahren sind, habe ich keine einzige Sekunde an die Menschen gedacht die ich am meisten liebe, meine Freunde. Wie sie geweint haben mussten, als sie erfuhren, dass wir vermisst werden und wie ihr Schmerz immer tiefer sitzen musste von Tag zu Tag. Ich weinte, versuchte mich aber zusammen zu nehmen. Ich redete mir ein, dass sie schon darüber hinweg kommen würden und das Sharons und mein Weg der richtige sei. Nach ein paar Minuten hatte ich mich wieder gefangen und machte mich auf den Weg zurück zum Zelt. Das war so ziemlich der schwierigste Tag von allen. Wir beide hatten aber auch ebenso schöne Tage. An einer Stelle des Waldes wurde der Fluss breiter und formte sich zu einem tiefen See. Die Böschung am Rand wurde immer höher und höher. Wir dachten uns, wir sollten auch mal Spaß haben, statt die ganze Zeit zu laufen. So stellten wir uns in unseren kürzesten Anziehsachen ganz oben auf die Böschung. Wir wollten ein bisschen Spaß haben und uns gleichzeitig gegenseitig zeigen, wie gut wir uns vertrauen konnten. Sie packte meine Hand und wir zählten bis Drei. Bei Drei sprangen wir ab. Es war ein Gefühl von unendlicher Freiheit. Es gibt kein besseres Gefühl, als das was man hat, wenn man frei fällt. Dieser Moment spiegelte unsere ganze Reise wieder. Dieses Gefühl. Keine Regeln, keine Einschränkungen, niemand der auch nur versuchte uns zu sagen, was wir zu tun haben. Komplett nass machten wir uns wieder auf den Weg. Wir folgten wieder dem See der sich nach und nach zurück in einen Fluss zurückverformte. Der schönste Moment war jedoch, als wir am Ende des Flusses angekommen waren. Er floss in einen Hafen. Nun waren wir auch wieder in die Zivilisation gekommen. Wir entschieden uns an dem Hafen links weiterzugehen. Die Menschen hier sprachen eine andere Sprache, mir war sofort klar geworden, dass wir bis nach Holland gereist waren. Unsere Vorräte gingen zu neige und so entschieden wir uns noch bis zum Abend weiter zu laufen und dann in einer der Städte hier einzukaufen. Von dem Meer sahen wir nichts, da wir die meiste Zeit durch die Dörfer wanderten. Den halben Tag waren wir jetzt schon hier unterwegs und wir bekamen Hunger. So entschieden wir schon in der nächsten Stadt einen Einkaufsladen aufzusuchen. Die nächste Stadt hinter den ganzen Dörfern war nicht sonderlich groß, aber auf ihre eigene Art und Weise wunderschön mit den alten Häusern und den gepflasterten Straßen. Mit unserem Geld besorgten wir uns einiges an haltbarem Essen und genügend Wasser zum Trinken. Als wir aus dem Laden heraustraten, sahen wir einen jungen Mann. Er trug ein Surfbrett mit sich. Es war offensichtlich, dass wir beide genau das Gleiche dachten. ‚Ein Surfbrett… wo kann man am besten surfen? Am Meer natürlich!’ Wir schauten uns gleichzeitig an. Unsere Augen funkelten und ich fing vor Freude fast an zu weinen. Wir sprangen uns in die Arme und sie rief ‚Ohaaaaa endlich!’ Dann nahm ich sie am Arm und zog sie schnell hinter mir her. Wir wollten den Mann schließlich nicht aus den Augen verlieren, dem Anschein nach wollte er ja zum Strand. So folgten wir ihm durch die ganze Stadt. Der Himmel färbte sich schon langsam Orange-Rosa. Die Sonne musste bald untergehen. Wir eilten mit unserem Gepäck durch die Gassen. Da spührte ich auch schon den frischen Meereswind in meinem Gesicht. Dieser salzige Geruch lag in der Luft und von weitem hörte man die Wellen rauschen. Sharon weinte und mein Herz schlug wie verrückt. Ich war so unglaublich aufgeregt. Wir sahen das Meer in der Ferne. Alles wonach wir gesucht hatten, war hier. Da schrie Sharon laut auf, packte meine Hand und raste los. Mit unseren Taschen fiel das Laufen sehr schwer, trotzdem taten wir alles um so schnell es ging am Meer anzukommen. Der Himmel sah unglaublich schön aus, wir kamen genau zum richtigen Zeitpunkt. Im Sand angekommen zogen wir sofort unsere Schuhe und Socken aus, warfen unsere Taschen und Jacken in den Sand und rannten. Dann standen wir da. Mit den Füßen im Meer. Wir blickten auf den wolkenfreien Himmel und die untergehende Sonne. Eine große rot-orangene Kugel, die langsam im dunklen Blau verschwand. Der Wind wehte durch unsere Haare. Wir hielten uns aneinander fest, weinten und lächelten so, wie wir noch nie gelächelt haben. Das war der Beginn einer neuen Zeit. Einer besseren Zeit. Eines neuen Lebens. Und es begann in Delfzijl.