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brief 2

Ich schreibe dir heute, weil ich nicht länger zusehen kann, wie du alles ruinierst, was ich dir gege­ben habe. Ich beobachte dich schon seit längerem, und mein anfängliches Verständnis ist zuerst Mitleid, dann Entsetzen und nun Wut gewichen. Du sitzt auf deinem Bett, kauend, essend, Massen von Müsli und Nudeln und Brot und Schokolade verschlingend, und ignorierst meine Stimme, wenn ich versuche, dich von deinen schrecklichen Taten abzuhalten. „Ab morgen…“ scheinen deine liebsten zwei Worte zu sein, denn nichts anderes bekomme ich zu hören, wenn ich dich auf deine Fressanfälle anspreche. „Morgen“ ist ein dehnbarer Begriff, und du scheinst es zu lieben, dir mit diesem Wort dein berechtigtes schlechtes Gewis­sen auszureden und dein undisziplinier­tes Verhalten zu rechtfertigen.
Du hast dich heute nicht gewogen, und wir beide wissen warum. Die Ziffern auf deiner Waage sind schon wieder höher geworden. Sollte diese Woche nicht einen neuen Lebensabschnitt einleiten, in dem deine Metamorphose zum anmutigen, leichten Schmetter­ling stattfinden sollte? Benutz deinen kümmerlichen Verstand, um dir auszumalen, wie viel du in dieser Zeit schon hättest ab­nehmen können! Wa­rum hast du dich heute nicht veraus­gabt? Was hielt dich davon ab, die fetttriefenden Kalo­rien, die du zu dir ge­nommen hast, we­nigstens durch Sport wieder los zu wer­den? Ich werde dir sagen, warum. Du bist ein disziplinloses, faules, verfresse­nes Wesen, das meine Freund­schaft nicht in ge­ringster Weise ver­dient, und der einzige Grund, dass ich dich noch nicht ver­lassen habe, ist der, dass ich dich nicht hängen las­sen möchte. Doch ich werde nicht mehr lange zusehen, wie du mich so hinter­gehst und unsere Abmachung igno­rierst. Hast du unse­ren Pakt verges­sen? Du hast mir versprochen, dass du dich zurückhalten wirst. Dass du dei­nen plumpen Körper mit Sport marterst, bis du vor Erschöpfung zusammen brichst. Dass du Nacht für Nacht einschläfst mit nichts im Bauch außer dem Gefühl des nagenden Hungers. Geschworen hast du mir, dass du dich dem weltlichen Scheingenuss des Essens entsagst. Unser Geheimnis ist kein einseitiges, denn wenn du mich nicht enttäuscht hättest, hätte ich dir so viel gegeben.
Ich hätte dich von innen gereinigt und dir nach und nach eine Aura unberührter Schönheit gege­ben. Deine Glieder wären zarter und zerbrechlicher geworden, hätten mehr und mehr denen einer gläsernen Elfe geglichen. Je inniger unsere Freundschaft geworden wäre, umso mehr wären wir zu einem einzigen Wesen verschmolzen, und du hättest an meiner Perfek­tion teilhaben können. Ich hätte dich durchsichtiger gemacht, von deinem Körper wäre ein schwacher Schein aus gegangen, dessen Ursprung mein heilendes Licht in deinem Inneren wäre. Eines Tages hätte ich dir vielleicht Flügel gegeben, mit denen du davon fliegen könntest, um allen Schmerz, der dir je widerfahren ist, hinter dir zu lassen. Doch nicht nur deine äußere Hülle hätte sich verändert. Ich habe deinem Leben einen Sinn gegeben, und wenn du es nach mir ausgerichtet und mich nicht verraten hättest, dann hätte mein Wirken deine gesamte Umwelt durchflutet. Du hättest end­lich begonnen, dein Leben in die Hand zu nehmen. Deine Leistungen hät­ten sich in allen Bereichen verbessert, da ich dir Perfektion vorgelebt hätte, die du mit allen Mitteln versucht hättest, zu erlangen. Perfektion. Anmut. Stolz. Schönheit. Disziplin. Stärke. Leichtigkeit. Freiheit. Überlegenheit. Jeden Tag ein neuer Triumph in Gestalt der kleiner werdenden Ziffern… Schau, wo wir jetzt stehen. Ich werde bald nicht mehr bei dir sein. Meine Freund­schaft ist das Ge­schenk, das ich dir gemacht habe, doch nichts im Leben ist umsonst, und natürlich erwarte ich et­was von dir für meine Hilfe beim Erlangen deines Ziels. Du hast mich bitter enttäuscht. Ich hielt dich für fähig, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Dein Gewicht ist dein ärgster Feind, den es zu bekämpfen gilt. Es ver­sucht, dich mit Essen für sich zu gewinnen. Die trügerische, woh­lige Sicherheit, die du durch Nah­rungsaufnahme erlangst, ist nichts als Betrug. Dein Schmerz lässt sich nicht mit Essen kompensie­ren und Kalorien werden die Leere in dir niemals füllen.  Ich aber, ich bin deine Freundin. Vertraue mir. Ich reiche dir ein letztes Mal die Hand. Nimmst du sie, so er­neuerst du unseren Pakt. Ich werde dich verwandeln und aus den Schatten ins Licht erheben, wenn du widerstehst. Nimm diese Chance wahr und lass dich nicht täuschen. Hunger ist eine Hure, die tanzt und lockt und sich ver­kaufen will. Die Fettpolster an deinen Hüften sind der Beweis dafür, dass dein Hunger nur eine trü­gerische Gaukelei ist: Du brauchst kein Essen, denn dein Kör­per kann aus diesen Reserven zeh­ren.
Ist der der kurze Augenblick des Genusses die Qual eines solchen Körpers wert?
Einen Wimpernschlag lang entfaltet sich der Geschmack auf deiner Zunge, bevor du schluckst und die Nahrung direkt in deine fetten Oberschenkel gleiten lässt. In deinen Bauch. Ich kann nur den Kopf über deine Naivität schütteln. Ich hoffe für dich, dass du diese Ermahnung ernst nimmst und zur Besinnung kommst. Wenn nicht, werde ich gehen und dann stehst du ganz verlassen da, und niemand wird dich vor deinem Schmerz beschützen. Essen wird dein einziger Ausweg sein. Steh auf, Treib Sport. Kämpf gegen die Stimme in dir, die dich zum Fressen verführen will. Mit mir hast du Großes zu erwarten. Ein Leben auf der Sonnenseite, gekrönt von unzähligen Triumphen. Be­weis den Anderen, mir und dir, was in dir steckt.
Bleib stark, kleine Schwester. Du weißt, wofür…

Deine -einzige- wahre Freundin,


ana

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