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Die Zeit der kleinen Momente

„Es gibt diese kleinen flüchtigen Momente. Unbedeutend, aber auch irgendwie ganz schön. Es gibt sie und sie sind so selbstverständlich, dass sie eigentlich keiner mehr erkennt. Man erlebt sie, wenn man durch die Stadt geht, wenn man am Bahnhof steht und auf seinen Zug wartet oder wenn man nur mal eben in den Supermarkt flitzt. Man erhascht einen flüchtigen, sekundenlangen Blick auf einen anderen Menschen, sieht ein paar Sekunden seines Lebens und ist auch schon wieder vorbeigegangen. Man freut sich über ein nettes Lächeln, einen Gruß oder ein Nicken, ärgert sich wenn der Gegenüber ein brummiges Gesicht macht und auf den Boden starrt, weil er vielleicht gerade einen schlechten Tag hat. Man bildet sich in diesen paar Sekunden eine Meinung über den Fremden und schiebt ihn in eine Schublade, nur durch sein Äußeres. Man fragt sich, was wohl passiert wäre, hätte man sich näher kennen gelernt, wenn der Mensch, den man sofort wieder vergisst, gleich nachdem man ihn gesehen hat, gut aussieht. An manchen Tagen liebe ich diese flüchtigen Blicke, die einen für Sekunden aus dem eigenen Leben tragen. Ich lächle und mag es anderen eine Freude dadurch zu bereiten. Doch an manchen Tagen will ich niemanden sehen oder hören und doch werden mir die schwimmenden Gesichter in den Menschenmassen aufgedrängt. Aber ich glaube, man braucht diese kleinen zwischenmenschlichen Kontakte, dieses für Sekunden andauernde Gefühl des Nichtalleinseins.
Eine dieser typischen Situationen war der alljährlich wiederkehrende Besuch einer muffigen, schmutzigen Autobahnraststätte. Man konnte sich dort benehmen, wie man wollte, weil man die Menschen denen man hier flüchtig begegnete, sowieso nie wiedersehen würde. Ein umherhuschender Blick, während man an der Toilette anstand und schon sprangen einen die bizarrsten Typen von Menschen an. Zwei Zentner Kolosse mit fettigen Haaren und unförmigen Zelten aus Kleidung, die Oberkorrekten, die schön brav die Hände desinfizierten und der Putzfrau einen abgezählten Betrag auf dem Tellerchen hinterließen, die Großfamilien, die die Hälfte der zur Verfügung stehenden Klos besetzte. Man hätte diese Liste endlos weiterführen können. Als ich mit vier Jahren zum ersten Mal mit meinen Eltern und Geschwistern im Urlaub war, kam mir diese ganze Situation, eingezwängt zwischen wildfremden Menschen, sehr bedrohlich vor. Ich fürchtete mich und klammerte mich an die Beine meiner Mutter, die ihre Handtasche an die Brust gepresst dastand, um keinem Gauner die Gelegenheit zu geben ihr Portemonnaie zu stehlen.
Mit der Zeit besserte sich meine Angst, bis ich es sogar lustig fand, mir Namen für die mir unbekannten Menschen auszudenken oder ihnen mit hingeflüsterten Worten über klemmende Toilettentüren und verstopften Schüsseln an der letzten Raststätte Angst einzujagen. Doch über andere Raststätten hätte ich überhaupt keine Auskunft geben können. Bei uns hatte sich nämlich das Ritual eingebürgert, jedes Jahr am selben Tag in den Urlaub aufzubrechen und in derselben Raststätte einzukehren. Meine Familie fand es lustig eine Stammraststätte zu haben, in der man uns nach drei, vier Jahren sogar zu kennen begann und fortan immer besonders freundlich bediente.
Als wir bereits seit vier Jahren Stammgäste waren, fiel unseren Eltern auf, dass ihnen jedes Jahr eine andere Familie sehr bekannt vorkam. Und zwar war diese Familie ebenfalls immer am 25. Juli in der Raststätte zu finden. Ich konnte es kaum glauben, dass eine andere Familie genauso verrückt sein sollte wie wir. Beschwingt und in Urlaubsstimmung wie sie waren, sprachen meine Eltern die Fremden natürlich an. Es wurde ein großes Hallo veranstaltet und die Erwachsenen fanden die ganze Sache so verrückt und lustig, dass man sich zusammensetzte und sich austauschte. Wohin fahrt ihr denn? Wo wohnt ihr? Was für ein toller Zufall, findet ihr nicht auch? Wir Kinder taten das, was Kinder immer tun. Wir arrangierten uns mit der Situation, beschlossen Freunde zu sein und verschwanden nach draußen, um zu spielen. Wir waren insgesamt fünf Kinder, die sich prächtig verstanden. Den ganzen Vormittag und den halben Nachmittag spielten wir und freuten uns, nicht in den stickigen, ungemütlichen Autos sitzen zu müssen. Es wurde später und später, bis unsere Eltern beschlossen, erst abends wieder loszufahren. In der Euphorie der Begegnung wurde der Pakt geschlossen, sich jedes Jahr an genau diesem Tag hier zu treffen, aber nur an diesem Tag, obwohl wir weniger als 25 Autominuten voneinander entfernt wohnten. Es wurde mit einem feuchten Händedruck besiegelt und wir fuhren wieder ab. Eine Weile waren wir noch nebeneinander, bis die Beckers eine Ausfahrt nehmen mussten und aus unserem Blickfeld verschwanden.
Wir hatten weder ihre Handynummer, noch die genauen Adresse, doch ab diesem Tag trafen wir uns jedes Jahr am 25. Juli an dieser Autobahnraststätte. Trotz der stinkenden Autos, der brüllenden Autobahn, dem Müll und den Hundehaufen überall verbrachte ich einige der schönsten Tage meines Lebens an dieser Raststätte. Jahr um Jahr verstrich und wir Kinder verstanden uns immer besser. Marcel und Leon Becker waren zwei wirklich nette Jungs, die sich sowohl mit meinem Bruder Anton als auch mit meiner Schwester Eva und mir gut verstanden. Wir spielten alles Mögliche zusammen und die einen brachten den anderen die tollsten Spiele bei. Wir waren immer ganz traurig, die anderen schon nach einem Tag verlassen zu müssen. Doch unsere Eltern blieben stur und fanden es witziger das Ritual genauso aufrechtzuerhalten, obwohl sie einander auch sehr gerne leiden konnten.
Mit vierzehn wurden wir langsam rebellisch. Man kennt das ja. Die Pubertät fängt an und man tut immer genau das Gegenteil von dem, was die Eltern wollen. Wir tauschten also unsere Nummern aus. Von diesem Tag an schrieben wir regelmäßig und trafen uns sogar ab und zu. Natürlich wussten unsere Eltern nichts davon und warteten immer noch auf den dusseligen 25. Juli.
Irgendwann, ich weiß nicht mehr, wann genau der Zeitpunkt gekommen war, aber irgendwann begann sich etwas zwischen Leon und mir zu verändern. Er war der jüngere Beckerbruder und ich mochte ihn schon immer sehr gerne. Doch auf einmal kam mehr dazu, er war für mich nicht mehr nur ein guter Freund. Und ich war nicht mehr nur die gute Freundin für ihn. Wir trafen uns öfter. Ohne die anderen, die nur noch lästige Statisten waren. Ich konnte nicht aufhören an ihn zu denken. Meine Eltern wunderten sich, dass ich so selten zu Hause war. Aber aus einem mir nicht bekannten Grund wollten wir ihren Glauben an das Ritual nicht zerstören.
Unser erster Kuss ereignete sich an einem kalten, weißen Dezembersamstag. Wir befanden uns mitten in dem ersten Winterausbruch in diesem Jahr. Eine watteweiße Schneeschicht bedeckte alles und vereinzelte Schneeflöckchen rieselten durch die weihnachtliche Luft, die nach Tannenzweigen und Plätzchenduft roch. Wir schlenderten Hand in Hand durch den Park in Richtung Wald. Auf den Weihnachtsmarkt konnten wir nicht, seine Eltern tummelten sich dort mit anderen glühweintrinkenden Weihnachtsfanatikern und bewunderten die leise Musik und den strahlenden Tannenbaum auf dem Marktplatz.
Bei den Klängen von „Leise rieselt der Schnee“ bekam ich meinen ersten Kuss, von einem Jungen, den ich auf einer Autobahnraststätte am 25. Juli kennengelernt hatte. Danach hatten wir keine Lust mehr es geheim zu halten. Unsere Eltern fanden die Verbindung ihrer zwei Familien gar nicht so schlecht, beschlossen aber ihr Ritual weiterzuführen. Und so kam es, dass Leon und ich am 25. Juli, eingezwängt zwischen anderen Jugendlichen, auf den Parkplatz der Autobahnraststätte einbogen. Der Bus hielt auf einem unserer Stammparkplätze und wir stiegen aus, bereit auch unseren ersten gemeinsamen Urlaub an dieser Raststätte am 25. Juli zu beginnen.
Ich habe die Zeit, in der wir uns jeden Sommer trafen und noch immer treffen, die Zeit der kleinen Momente genannt. Weil diese kleinen, flüchtigen Momente oft unser Leben ausmachen und darüber entscheiden, welchen Weg es nimmt. Durch den kleinen Moment, in dem unsere Eltern sich sahen, und durch viele folgende kleine Momente, die voller Glück waren, haben wir zueinander gefunden. Und nur deswegen können wir heute hier stehen.“

In der Kirche war es ganz still, als ich meine Rede beendetet hatte. Langsam raffte ich mein weißes, langes Kleid und stieg von dem Podest herunter. Ich setzte mich wieder auf meinen Platz, die lange Schleppe hinter mir herziehend. Ich sah, dass meine Mutter sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel wischte.  Ein Lied setzte ein, der Pastor ging zum Altar, der mit weißen Blumen geschmückt war. Ich sah zu Leon, wir lächelten uns an und schlossen unsere Finger umeinander.
Marie

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