Carols Geheimnis
Die Sonne schien heiß und grell durch die Windschutzscheibe. Carols Kopf lehnte am Fenster des Autos. Sie schlief. Auf ihrem Schoß lag eine Zeitschrift. Bei der nächsten Kurve würde sie hinunterrutschen. Alexandra hielt das Lenkrad fest umklammert. Mit jeder Sekunde bereute sie es ein wenig mehr nicht den Tunnel benutzt zu haben. Der Bergpass war staubig und schmal. Sie wollte ihn so schnell wie möglich wieder verlassen. Mit einer schweißnassen Hand schaltete sie das Radio an. Melodien umschwirrten sie wie lästige Fliegen. Das Auto krachte durch ein Schlagloch. Ruckartig trat Alex auf die Bremse. Carols Kopf krachte zuerst gegen die Windschutzscheibe, dann wurde sie nach vorn gedrückt. Vor Schmerz wimmernd rieb sie sich die Schläfe. "Was zur Hölle war das?", Carol sah Alex mit tränenden Augen an. "Ein Schlagloch, verdammt noch mal. Davon gibt’s hier Tausende, falls du es noch nicht bemerkt hast!", kreischte Alex. Sie kurbelte das Seitenfenster herunter und beugte ihren Kopf hinaus. Carol blies Luft durch ihre Zähne. Genervt strich sie sich das Haar aus dem Gesicht. "Wer von uns beiden wollte denn nicht vor dem scheiß Tunnel warten, du oder ich?". Alex blickte sie an und schrie:"Du!". Sie war den Tränen nahe. Carol warf den Kopf zur Seite und sah aus dem Fenster. Ihre feuerroten Haare brannten im Licht der Sonne. Alex zog sich ein Zopfgummi vom Handgelenk und band sich ihre Haare zu einem Zopf zusammen. "Jetzt ist es zu spät zum Umkehren.", knurrte sie. Carol drehte ihren Körper demonstrativ von ihr weg und starrte aus dem Fenster. Alex seufzte und trat aufs Gaspedal. Das Auto stolperte weiter über die holprige Straße. Das Radio plärrte immer noch die scheußlichen Melodien. Carols Hand schnellte aus der Kugel hervor, zu der sie sich zusammengerollt hatte, und schlug auf den Knopf ein, der das Radio verstummen ließ. Alex presste ihre Lippen zusammen und gab mehr Gas. Wenn sie nicht bald eine betonierte Straße fanden, würde sie wahrscheinlich Amok laufen. Die Carol-Kugel ließ ein Knurren vernehmen. Alex ignorierte sie stur. Mit einem mulmigen Gefühl sah sie über Carol hinweg auf den Abgrund, der sich neben der Fahrbahn erstreckte. Irgendwo da unten glitzerte ein See. Carol löste sich aus ihrer Kugelform und blickte ebenfalls den Hang hinunter. "Fahr bloß vorsichtig.", flüsterte sie, "Ich möchte da unten nicht mein Grab schaufeln.". Alex Wut flaute ein wenig ab. "Ich auch nicht.", sagte sie mit zittriger Stimme. Sie richtete ihre Augen auf die Straße und hätte sich fast erschrocken, so nah war plötzlich ein Auto vor ihr, dass sie vorher überhaupt nicht bemerkt hätte. "Wo zur Hölle kommt das denn her?", sagte sie und sah Carol leicht erschrocken an. Zögernd betrachtete Carol das Auto. Plötzlich weiteten sich ihre Augen. "Oh mein Gott, Alex, siehst du nicht was das ist?", schrie sie panisch. Alex sah sie verblüfft an. Vor ihnen war ein Auto. Nichts weiter. "Alex, wir müssen umdrehen, siehst du denn nicht was wir da vor uns haben?", Carol ergriff das Lenkrad und versuchte es herumzureißen. Mit aller Kraft hielt Alex das Lenkrad fest. "Was hast du denn plötzlich, es ist doch nur ein Auto?", schrie Alex in panischer Angst. Carol hielt inne und sah sie an. Langsam beugte sie sich an Alex Ohr und flüsterte: "Alex, an dem Auto vor uns kleben Tote." Alex sah Carol an. Ihre Nasenspitzen berührten sich fast, so nah war sie an ihrem Gesicht. Alex standen Schweißperlen auf der Stirn, langsam schaute sie auf das Auto vor ihnen. Es war schwarz und staubig, an der Heckscheibe klebt ein Aufkleber "Hund an Bord", darunter ein kleiner grinsender Dalmatiner. "Carol, da…da ist nichts an dem Auto.", Alex Stimme brach, als sie sich erneut zu Carol umdrehte und in ihren irren Blick starrte. Sie konnte ihren Schweiß riechen. Carol drehte den Kopf zu dem Auto und riss die Augen erneut auf. Plötzlich schrie sie und riss das Lenkrad mit solcher Gewalt zur Seite, dass Alex es mit ihren schweißnassen Händen nicht halten konnte. "Du hast es auch gesehen, oder? Da waren sie, sie haben am Heck geklebt. Wie Puppen hat er sie dort festgeklebt.", brüllte Carol mit weinender Stimme, als die Vorderreifen die Straße verließen und das Auto begann sich in Richtung Hang zu neigen. "Carol da war nichts, da war nichts…NICHTS!". Alex versuchte vergebens zu Bremsen. Das Auto kippte über den Hang und überschlug sich mehrmals. Immer und immer tiefer fiel es und kam plötzlich zum Stehen. Alex öffnete ihre Augen und starrte auf ihre blutverschmierten Hände, die immer noch das Lenkrad umklammerten. Rasselnd sog sie Luft in ihre Lungen. Sie drehte den Kopf zu Carol. Ihr Kopf lag an dem Fenster, als würde sie schlafen. Doch die feinen Risse des gebrochenen Glases füllten sich langsam mit Blut. Alex packte Carols Schulter und zog sie zu sich heran. Ihr Kopf fiel herum und als Alex in Carols weit aufgerissene Augen starrte, bemerkte sie etwas. Das Auto schien irgendwie abzusacken. Immer ein kleines Stück tiefer. Mit einer schrecklichen Erkenntnis sah sie aus dem Fenster. Das Auto war mitten in den See gerutscht, den sie vorhin hatte glitzern sehen. Panisch zerrte Alex an ihren Sicherheitsgurt und löste ihn schließlich. Kleine Wasserrinnsale bildeten sich entlang der Tür. Alex schlug Carol mit der flachen Hand ins Gesicht. " Wach auf, Carol.", schrie sie," Bitte wach auf." Heiße Tränen liefen über ihr Gesicht. Carol sah sie mit großen leeren Augen an. Alex ließ Carols Gurt aufschnappen und versuchte die Tür zu öffnen. Das Auto war jetzt schon zu zwei Dritteln in dem See versunken. Ihre Bemühungen waren vergebens. Die Tür ging nicht auf. Alex schlug mit aller Kraft gegen das Fenster. Nichts geschah. Panisch sah sie sich im Auto um. Ihr Blick fiel auf den Fensterheber. Mit aller Kraft kurbelte sie das Fenster nach unten. Wasser sprudelte in das Auto. Sie spürte wie Wasser in ihre Schuhe drang. Immer schneller kurbelte Alex das Fenster herunter. Als es endlich unten war drückte sie sich mit letzter Kraft hinaus. Mit der einen Hand zog sie sich aus dem Wagen, der mittlerweile völlig im Wasser versunken war. Mit der anderen Hand umklammerte sie Carols Handgelenk. Sie paddelte kräftig mit den Beinen, doch kam der Wasseroberfläche keinen Zentimeter näher. Carols Gewicht zog sie immer weiter nach unten. Der Luftmangen presste ihre Lunge zusammen. Alex strampelte schneller und grub die Fingernägel in Carols Arm. Doch plötzlich schien sich ihr Carols Arm ihrem Griff zu entziehen. Alex schaute nach unten und sah Carols leblosen Körper im Wasser schwimmen. Ihr Gesicht war von einer Wolken roter Haare umgeben. Bis zur Hüfte hatte Alex sie aus dem Fenster gezerrt. Es nützte alles nichts mehr. Mit letzter Kraft schwamm sie an die Oberfläche. Als ihr Kopf aus dem Wasser stieß sog sie die frische Luft keuchend in ihre Lungen. Hustend und spuckend paddelte sie ans Ufer. Entkräftet sackte sie auf dem Gras zusammen. Ihr Kleidung zog zentnerschwer an ihrem Körper. Ihr nasser Haar klebte an ihrem Kopf. Ihr Körper, von zahlreichen Schnitt- und Schürfwunden übersät, brannte wie die Hölle. Langsam hob sie ihren Kopf und sah über die stille Oberfläche des Sees. "Ich möchte da unten nicht mein Grab schaufeln.", tönte Carols Stimme in ihrem Kopf. Carol ist tot. Alex weinten. Carol ist tot und ich habe überlebt. Mit schmerzenden Gliedmaßen rappelte Alex sich auf. Sie schluchzte und schlug sich die Hände vors Gesicht. Blind vor Tränen stolperte sie dem Hang entgegen, der zurück zur Straße führte. Ein Schritt nach dem anderen, sie knickte um und taumelte zur Seite, doch blieb auf den Beinen. Bis sie plötzlich den Boden unter den Füßen verlor. Sie riss die Augen auf und schlug schmerzhaft auf einen harten Untergrund auf. Über ihr schien die Sonne durch ein Loch. Sie drehte den Kopf zur Seite. Der Boden der Höhle war feucht und übersät von spitzen Steinen. Alex setzte sich auf. Ihr Kopf pochte. "Was geschieht hier?", schluchzte sie. Sie krabbelte rückwärts und lehnte sich an die modrige Wand.Da spürte sie einen heißen Atem an ihrem Ohr. "Ich habe überlebt und du bist tot.". Alex riss den Kopf zur Seite und blickte in Carols Gesicht. Ihre Augen waren so weit gedreht, dass man nur noch das Weiße sah. "Nein", keuchte Alex," Carol…du bist…". Carol grinste. "Ich habe überlebt und du bist tot.", flüsterte sie. "Nein!", schrie Alex und wich vor Carol zurück, " Du bist ertrunken, es tut mir so Leid, Carol. Ich wollte dich retten, du warst tot!". Carols Haare hingen in blutroten dicken Strähnen herunter. Sie kroch auf Alex zu. "Arme Alex. Manche Menschen akzeptieren ihren Tod einfach nicht. Aber ich habe überlebt und du bist tot." Carol packte Alex Hanfgelenke. Alex schrie und wehrte sich, sie trat nach Carol und wand sich, dich Carols Hände waren wie Schraubstöcke. Alex Atem wurde flacher, als Carol sie über sie beugte. Faulige Gerüche stiegen in ihre Nase. Alex kniff die Augen zusammen. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie sagen, dass Carols Zähne sich gerade in ihr Fleisch bohrten. Heiße Flüssigkeiten rannen über ihren Körper. Schmatzen und Schlürfen drang an ihr Ohr. Ihr Körper explodierte in einer Wolke aus Schmerz. Langsam wurde das Licht immer schwächer. Alex Leben floss hinaus, jemand anderem zu dienen.
Carol sprach niemals wieder über Alex. Ihre Leiche fand man nie. Manche Menschen akzeptieren den Tod einfach nicht.