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Ihr Mann hielt sich grundsätzlich aus dem, was Frauen sagten, heraus. Jens wollte zum jetzigen Zeitpunkt ebenso wenig Kinder haben wie sie. Trotzdem überließ er sie den Überredungsversuchen seiner Mutter. Etwas hatte sich in ihrem Magen zusammengekrampft, als sie daran dachte, dass ihr ein genauso müder Sonntag schon in zwei Wochen wieder bevorstand, wenn sich fast dieselben Leute zum Geburtstag seiner Schwester in deren Haus versammelten.

Was hab ich getan, dachte Lene. Sie öffnete die Tür und stieg aus. Es war kalt. In unmittelbarer Nähe des Wagens war es fast schwarz. Das Standlicht beleuchtete nur einen kleinen Kegel um die Vorderseite des Autos herum. Von den blinkenden Zeichen in der Ferne geblendet, konnte Lene zunächst keine Spur eines verletzten oder toten Tieres entdecken.

Lene neigte den Kopf, da sah sie plötzlich ein paar braune Läufe unter dem Auto. Sie zitterten. Es lebte noch! Lene zog abwechselnd schnell die kalte Luft ein und stieß sie wieder aus. Tränen rannen ihr über das Gesicht. Konnte sie dem armen Tier noch helfen? Immer noch hastig atmend kroch sie unter das Auto, ihre braunen Locken verfingen sich an der Einstiegskante der Tür.
„Was suchst Du?“ fragte Jens, der auf der gegenüberliegenden Seite unter das Auto sah.
„Ach Du Scheiße, ein verdammter Rehbraten. Es schneit wieder doller, wir sollten schleunigst abhauen.“

Lene keuchte vor Anstrengung, als sie sich abmühte, den überraschend schweren Körper an den Beinen unter dem Auto hervorzuziehen. Offensichtlich war das Reh nicht unter die breiten Räder geraten. Ein Glück? Hinter ihr knirschte der frische Schnee. Jens tippte ungeduldig mit der Schuhspitze auf den Boden.
„Das Vieh ist hin“ erklärte er, „jetzt komm, steig wieder ein“
„Nein, es atmet noch“ flüstere Lene. Sie beobachtete, wie der Brustkorb des Tiers sich auf und ab bewegte. Es zitterte am ganzen Körper.
„Was willst Du denn machen, noch mal drüberfahren oder was?“

Oh, es wird sterben, dachte Lene. Der Schnee um den zitternden Körper herum färbte sich rot. Sie war noch nie zuvor einem Reh so nahe gekommen. Die Augen waren so groß. Sahen sie immer so hilflos aus? So voller Unschuld. Und Leid. Das Reh ist schwach, dachte Lene. Sie konnte nicht aufhören, in diese Augen zu schauen, die eine Botschaft zu überbringen schienen, nur für sie. Als wolle es sagen „Ich sterbe für Dich.“
Langsam und vorsichtig strich sie über das Fell. Wenn ich es doch ungeschehen machen könnte, wenn ich dich doch wieder lebendig machen könnte, dachte sie. Das Zittern wurde schwächer. Lene sah, wie die Augen des Tieres brachen. Es bewegte sich nicht mehr. Es war tot. Ich bin auch schwach, dachte sie. Ich werde überfahren wie dieses Reh, jeden Tag.

„OK, Du hast Bambi ermordet, beruhig Dich wieder und lass uns endlich weiterfahren. Mir ist kalt“. Jens tätschelte seiner Frau den Arm.
„Los jetzt“, wiederholte er noch einmal. Dann marschierte er eilig um den Wagen herum und stieg auf der Beifahrerseite ein. Zitternd und mit bleichem Gesicht nahm Lene wieder am Steuer Platz und nestelte eine Kugelschreiber aus ihrer Handtasche. Es gelang ihr kaum, ihre Hand ruhig zu halten, während sie etwas auf die Rückseite einer Parkquittung schrieb.

„Spinnst Du komplett? Willst Du hier in der Wildnis Briefe schreiben?“. Jens blickte genervt aus dem Seitenfenster, die schneebedeckte Straße führte an der Raststätte vorbei ins dunkle Nichts. Er gähnte laut. Lene faltete den Zettel mehrere Male zusammen bis er ganz klein war. Als Jens sich umdrehte, stieß er sich mit dem Kinn an den Fingerknöcheln ihrer Hand, mit der sie ihm den Zettel vorhielt.

„Au!“ rief er mit übertriebenem Schmerz in der Stimme. Er betätigte den Fensterheber, schnappte den Zettel und warf ihn hinaus in den Schnee.
„Was ist denn jetzt noch?“ fragte Jens, als er Lene erneut aussteigen sah, den Zündschlüssel hatte sie im Schloss stecken lassen. Sie verschwand zwischen den Bäumen und strebte auf die Lichter des Rasthofs zu.
„Wieso bist Du nicht bei Mama noch aufs Klo gegangen, aber Du machst ja aus Prinzip nicht was ich Dir sage“, rief er ihr durch die geöffnete Fahrertür hinterher.

Irgendwann würde er sich auf die Suche nach der Parkquittung machen.
„Ich verlasse Dich“ stand darauf.♥

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