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"Julius, komm zum Frühstück!", brüllte meine Mutter die Treppen hinauf.
Jeden Morgen dieses gemeinsame Frühstücken, ich konnte es überhaupt nicht leiden. Es war schon schlimm genug, so früh aufzustehen und dann noch jeden Morgen mit der Familie freundliche Worte wechseln. Das war echt zu viel für mich. Ich schmiss meinen Rucksack über die Schulter und schlich die Treppen runter. Dann setzte ich mich hin und meine Mutter legte mir sofort ein Spiegelei auf den Teller und schenkte Orangensaft in ein Glas. "Na, mein Schatz? Wie hast du geschlafen?", wollte sie mit einem breiten Grinsen wissen.
"Gut.", gab ich nur kurz zurück.
Ihr Dauergrinsen war mir unheimlich und diese ständige Freundlichkeit und die netten Gesten. Kaum auszuhalten.
"Juli, gehst du heute nach der Schule mit mir auf den Spielplatz?", erkundigte sich meine kleine Schwester Louisa, die vor ein paar Wochen in den Kindergarten gekommen war.
"Hmn, mal sehn.", antwortete ich ihr, obwohl ich genau wusste, dass ich nach der Schule ja doch keine Lust mehr hatte.
Ich verschlang das Spiegelei mit wenig Bissen und kippte mir den Orangensaft in den Rachen. "So, ich muss jetzt los. Tschüss!", sagte ich hektisch.
Als ich die Tür hinter mir zu schmiss, war ich froh, dieses fröhliche Familiengetue für ein paar Stunden nicht am Hals zu haben.
Ich lief den weiten Weg zur Bushaltestelle in großen Schritten. Es war noch dunkel und irgendwie auch ein bisschen kalt.
Der Bus war heute pünktlich. >Das ist echt selten<, dachte ich mir.
Ich setzte mich in die dritte Bank und steckte mir die Stöpsel des MP3-Players in die Ohren. Ich tippte die Songliste durch, doch irgendwie schien mir heute keines von allen zu gefallen.
Die Fahrt dauerte nicht lange, knapp 10 Minuten, dann waren wir auch schon an der Schule. Ich stieg aus, warf den Rucksack hinter mich und marschierte in die Schule. Erste Stunde Chemie. Das war nicht gerade mein Lieblingsfach. Ich schlenderte genervt zum Chemiesaal und setzte mich auf meinen Platz. Meinen Einzelplatz. Irgendwie mochte mich in meiner Klasse fast niemand. Ich wusste nicht warum, aber im Grunde genommen, konnte ich auch auf sie alle pfeifen.
Der Unterricht begann und ich langweilte mich schon nach 5 Minuten. Ich kritzelte sinnlose Muster und Zeichen in mein Heft. Wie immer war ich nicht an der Stunde beteiligt und das machte sich auch bemerkbar, als der Lehrer mir irgendwelche Fragen über chemische Stoffe stellte, die ich nicht beantworten konnte. >Was soll's<, dachte ich, >es gibt Schlimmeres.<

Endlich war Pause. Ich schlich die Gänge entlang. Plötzlich blieb ich stehen. Auf der kleinen Mauer, direkt neben dem Sekretariat, auf der ich immer saß, saß nun ein Mädchen. Sie war wunderschön. Sie hatten dunkelblonde, lange Haare, grüne Augen und sie trug ein süßes, blaues Blumenkleid. Sie war ungefähr 15 Jahre, ich schätze so alt wie ich.
Sie hatte einen knackigen, giftgrünen Apfel in der Hand. Immer wieder biss sie große Stücke davon ab. Ich stand wirklich lange dort und beobachtete sie. Sie war so wunderschön und ich hatte sie noch nie an unserer Schule gesehen.
Es läutete. Die Pause war aus und so gerne hätte ich sie doch noch weiter angesehen, wie sie dort saß in diesem wunderschönen Kleid und genüsslich von ihrem Apfel abbiss.
Sie sprang von der Mauer hinunter, warf das übrig  gebliebene Kerngehäuse in den Mülleimer und stolzierte in ihre Klasse.
Mein Atem stockte, ich hätte am liebsten ein paar Worte mit ihr geplaudert, aber dazu war ich viel zu unsicher und schüchtern.
Die restlichen Schulstunden vergingen wie im Flug, ich musste die ganze Zeit an sie denken. An ihre schönen, grünen Augen und an ihr Lächeln. Ja, ihr Lächeln war schön. Ich bekam sie einfach nicht aus dem Kopf.
Als die Schule zu Ende war, rannte ich zu meinem Bus und erwischte ihn gerade noch. Mir kam alles so furchtbar schnell vor, als würde die Zeit wie im Flug vergehen. Den ganzen Heimweg über, von der Bushaltestelle bis zu unserem Haus musste ich an sie denken. Ich stellte mir sie noch einmal genau vor Augen vor. Ich konnte mich an jedes Detail an ihr erinnern.
Zu Hause angekommen sahen mir meine Mutter und Louisa das Strahlen in meinem Gesicht förmlich an. In platzte zur Tür hinein, während meine Mum noch kochte. "Ja, warum grinst du denn so?", fragte sie verwundert. Irgendwie war ich nicht fähig zu antworten und damit blieb die Frage meiner Mutter offen. Louisa rannte in meine Arme und drückte mich, so fest sie nur konnte. "Juli!", schrie sie voller Aufregung. Ich hob sie hoch und plötzlich nervte mich gar nichts mehr.
Meine Mutter hatte Spaghetti Bolognese gekocht und heute merkte ich zum ersten Mal, wie gut sie eigentlich kochen konnte.
Nach dem Essen packte ich Louisa und drehte mich mit ihr im Kreis. Wir blieben stehen und uns war für einen kurzen Moment schwindelig.
"Na gut, wir gehen dann jetzt mal auf den Spielplatz. Stimmt's Lou? Versprechen muss man schließlich halten.", rief ich noch kurz zu meiner Mutter und schon waren wir draußen.
Ich und meine 10 Jahre jüngere Schwester rannten um die Wette zum Spielplatz. Ich ließ sie gewinnen und sie fühlte sich wie ein Held.
Mir gefiel das Strahlen in ihrem Gesicht, wie sie so über den Spielplatz tollte und Spaß hatte. Mit mir. Mit ihrem pubertierenden, großen Bruder Julius. Wir blieben noch lange dort und alberten herum. Ich glaube, wir wären nie gegangen, wenn unsere Mutter nicht auf dem Handy angerufen hätte und gesagt hätte, sie mache sich schon Sorgen.
Zu Hause ging ich sofort in mein Zimmer, ich musste wieder an das Mädchen denken. Immer wieder und immer wieder. Ich ging früh in mein Bett, ich hatte nichts anderes mehr im Kopf. Ich lag lange wach und  dachte nur an sie.

Nach einer kurzen Nacht machte ich mich für die Schule fertig. Ohne Frühstück und ohne "Tschüss" lief ich zur Tür hinaus. Ich wollte in die Schule. Ich wollte sie sehen. Oh mein Gott, seit wann wollte ich in die Schule? Was war denn mit mir los?
Nachdem ich die ersten zwei Stunden des Unterrichts überstanden hatte, lief ich sofort wieder zum Sekretariat und sie saß dort. Diesmal hatte sie eine rote, kurze Hose an und ein leuchtend, gelbes Träger-Top. Sie hatte die Haare zusammengebunden und was mir sofort ins Auge fiel, sie aß wieder einen Apfel. Genau so einen wie gestern. Einen giftgrünen, knackigen Apfel. Ich starrte sie wieder wie verrückt an, es wunderte mich sehr, dass sie davon nichts mitbekam. Aber sie war nur auf ihren Apfel fixiert. Sie biss genüsslich hinein und ihr Gesicht strahlte Freude aus. Freude und Selbstbewusstsein.

Viele Wochen vergingen. Jeden Tag während der Pause saß sie wieder auf der kleinen Mauer und jeden Tag verzehrte sie wieder einen grünen Apfel. Ich beschloss, sie das Apfelmädchen zu nennen, da ich ihren Namen nicht kannte. Irgendwann nach der Schule wollte ich noch nicht, dass sie jetzt wieder nach Hause geht und ich sie erst wieder morgen sehe. Also beschloss ich, nicht zum Bus zu gehen und ihr dafür unauffällig hinterher zu schleichen. Sie ging durch den Park, der direkt neben der Schule war. Ich hielt großen Abstand von ihr, damit sie ja nichts ahnte. Irgendwann kam sie zu einem großem Haus. Es sah aus wie ein Einfamilienhaus. Vorsichtig blieb ich hinter einem Baum stehen und beobachtete, was sie jetzt tat. Sie schaute in ihre Tasche und plötzlich stöhnte sie auf: "Ach mist!" Nun klingelte sie. Ein Junge in meinem Alter machte die Tür auf. Sie umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dann machte der Junge die Haustür zu und weg waren sie. Ich setzte mich auf eine der Bänke im Stadtpark. Ich schlug die Hände über dem Kopf zusammen und ein paar Tränen kullerten über mein Gesicht. "Wie konnte ich nur so naiv sein? Wie konnte ich nur denken, dass sie keinen Freund hat? Wieso hab ich mir überhaupt Hoffnungen gemacht?", flüsterte ich schluchzend vor mich her.

Total fertig lief ich nun vom Park aus nach Hause. Irgendwie war ich traurig, irgendwie aber auch wütend. Zu Hause rührte ich das Essen nicht mal ansatzweise an. Meine Mutter fragte mich gefühlte tausend Mal, was mit mir los sei. Irgendwann sagte sie: "Du wirst mich sowieso nicht los, bist du mir sagst, was los ist."
Ich hatte echt überhaupt keine Lust gerade mit irgendjemandem über meine Gefühle zu sprechen und schon gar nicht mit meiner Mutter.
"Ach Mama, ich hab eine 6 in Mathe.", brach ich mit einer Lüge heraus und tat glaubwürdig, damit sie mich endlich in Ruhe lies.
"Julius, das ist doch nicht schlimm. Du bist doch eigentlich gut in Mathe , das kannst du schon wieder aufholen.", lächelte sie mir entgegen und war beruhigt, da sie schlechte Noten nicht beunruhigten.
Ich setzte mich vor den Fernseher, obwohl ich überhaupt keine Lust darauf hatte. Ich hatte auf gar nichts Lust. Auf einmal kam Louisa die Treppen herunter gestolpert: "Julius! Gehst du mit mir auf den Spielplatz? Bitte, bitte, bitte!"
Lust hatte ich nicht, aber ich hatte mich nach Ablenkung gesehnt und vielleicht war das, genau das Richtige. Ich hob sie hoch und sagte in neutraler Stimmer: "Na klar."
Sie rannte ständig vor und ich ermahnte sie ein paar Mal, dass sie aufpassen solle, dass sie nicht hinfällt.
Am Spielplatz angelangt stürmte Lou auf die Rutsche. Ich setzte mich auf die Bank, die ebenfalls auf dem Spielplatzgelände stand und fing an nachzudenken. Ich machte die Beine breit und legte meine Hände auf den Kopf. Ich fühlte mich gerade wie ein erwachsener Mann, der seiner Tochter beim spielen zusah. Doch irgendwie sah ich ihr nicht zu, ich war in Gedanken, ich musste wieder an das Mädchen denken.
Am liebsten hätte ich laut geweint, geschrien und gebrüllt.

Plötzlich war meine ganze Hose total nass. Ich schreckte aus meinen Gedanken auf und sah die Luftballonfetzen überall herumliegen. Louisa krümmte sich am Boden vor Lachen. Sie hatte eine Wasserbombe auf mich geworfen. Auf einmal konnte ich nicht mehr traurig sein. Ich rannte auf sie zu und packte sie. "Na warte, das kriegst du zurück!", schrie ich lautstark. Ich kitzelte sie durch und wir hetzten lange über den Spielplatz. Ich kitzelte sie und sie kitzelte mich, wir liefen uns hinterher und spielten Verfangen. Total erschöpft fielen wir ins Gras und schauten einfach nur in den Himmel, wir beobachteten die Wolken, die über den Himmel zogen, sie sahen alle so unterschiedlich aus. Lou erkannte allemöglichen Motive in ihnen.
"Hallo.", sagte plötzlich eine nette, ruhige Stimme. Louisa und Ich schreckten hoch und sahen die Person sitzend an. Mein Atem stockte, ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Lou sagte: "Hallo du!" Sie sprang auf und kletterte am Klettergerüst nach oben. Vielleicht wollte sie sich beweisen oder einfach nur etwas zeigen, ich weiß es auch nicht.
Und wer da vor mir stand, das konnte ich nicht glauben.
Es war das Apfelmädchen, sie trug einen knielangen schwarzen Rock und ein regenbogenfarbenes Top und wieder hatte sie einen Apfel in der Hand. Einen giftgrünen Apfel, von dem sie herunter biss.
Ich glotzte sie an und merkte nicht mal, dass mir der Mund offen stehen blieb. Ich konnte nichts sagen, da waren tausend Gedanken in meinem Kopf, ich hätte sie unmöglich alle gleichzeitig aus mir rausbringen können. "Na, wenn du nichts sagst, dann sag ich eben was. Du bist doch der Typ, der mich in der Pause immer beobachtet, stimmts?", fragte sie neugierig. Und plötzlich löschten sich all diese Gedanken aus meinem Kopf. Plötzlich war da gar nichts mehr, ich hörte mich nur noch sagen: "Was? Wieso weißt du das?" - "Na hör mal, ich bin doch nicht komplett doof.", zwinkerte sie mir zu.
Ich stand auf, klopfte mir die Hose ein bisschen ab und setzte mich wieder auf die Bank. Sie stand auch auf und pflanzte sich neben mich.
Louisa kreischte und tobte auf dem Spielplatz herum, vielleicht wollte sie  einfach nur beweisen, wie schnell sie laufen konnte oder sie war von einer Hummel gestochen worden. Ich saß da, glotzte meine völlig irre Schwester an und neben mir saß das Mädchen, das mir den Atem raubte, aber schon vergeben war. In diesem Moment wär ich am liebsten im Erdboden versunken, ich wusste nicht mal, weshalb sie überhaupt hergekommen war.
"Sag mal bist du immer so schüchtern?", fragte sie verwundert.
"Neiiiinn.", antwortete Lou an meiner Stelle.
Auf einmal war meine Nervosität wie weggeblasen. Mein Klos im Hals rutschte hinunter und meine Stimmbänder plapperten einfach darauf los.
"Wie heißt du eigentlich? In meinen Gedanken heißt du immer nur Apfelmädchen.", fragte ich sie mit trotzdem nervöser Stimme.
Lachend sagte sie: "Apfelmädchen? Oh wie süß. Ja, ich esse schon wirklich viele Äpfel, ich mag sie eben gerne. Aber hören tut ich eigentlich auf den Namen Melanie", sie zwinkerte mir zu, "und wie heißt du?"
"Julius. Aber du kannst auch Juli sagen, wenn du willst. Sag mal, du hast einen Freund, stimmt's?", wollte ich unsicher wissen.
"Julius, der Name ist echt schön. Nein, hab ich nicht. Hast du denn eine Freundin?", sagte sie mit zarter, liebevoller Stimme.
"Häää? Was? Doch, du hast einen Freund! Ich hab gesehen, wie du ihn geküsst hast. Du bist nach der Schule zu ihm gegangen und hast ihn auf die Wange geküsst!", sagte ich mit leicht aggressiv klingender Stimme. Sie lachte genüsslich. "Woher weißt du denn das? Das war mein Bruder. Ich hab ihn auf die Backe geküsst, weil er mich rein gelassen hat. Ich hatte meinen Haustürschlüssel an dem Tag vergessen. Aber wieso weiß du denn das?", antwortete sie total verwundert. "Ähm, ich.. Also ich hab dich mal im Park gesehn, wie du da warst, also halt so zufällig.", gab ich zurück und irgendwie fiel mir ein riesengroßer Stein vom Herzen.
Sie grinste mir breit zu, sie wusste dass ich sie nicht zufällig gesehen hatte. Ich machte ihr ein paar Komplimente, dass sie wunderhübsch ist. Und plötzlich zog sie mich an sich und drückte ihre Lippen auf meine.
Mir wurde von einer Sekunde auf die andere total warm im Herzen. Ich hatte noch nie ein Mädchen geküsst und es fühlte sich so gut an, so richtig und so perfekt. Ich wollte sie nie wieder gehen lassen.
"Ihhhh!", kreischte Louisa als sie zu uns hinüber sah.
Ich war sprachlos, Worte fand ich im Moment keine, aber das brauchte ich auch nicht. Sie streichelte mir über die Haare und ich fühlte mich in ihren Armen so geborgen. Nachdem Lou nicht aufhörte zu kirren, beobachteten wir sie noch ein bisschen und genossen den Sommerwind, der über den Spielplatz fegte. "Deine Schwester ist echt niedlich.", sagte sie zu mir und blickte verlegen drein. "Sie ist meine Prinzessin.", gab ich stolz zurück.
Nachdem wir mit Louisa Hand in Hand heim liefen, tauschten wir noch Handynummern aus und danach trennten wir uns schweren Herzens.

Am Tag danach war Wochenende. Ich wollte sie sofort besuchen.
Noch vor Mittag machte ich mich auf den Weg zu ihr. An ihrem Haus angelangt, klingelte ich. Ich war schrecklich nervös.
Zum Glück machte sie sofort die Tür auf. Ich zückte einen Apfel hinter meinem Rücken hervor und streckte ihn ihr entgegen. Sie nahm den Apfel an und zog mich dann wahnsinnig schnell an sich. Sie schleckte in meinem Mund herum und es fühlte sich einfach nur schön an. Das schönste Gefühl das ich kannte.

Den restlichen Tag verbrachten wir in ihrem Garten auf dem Apfelbaum. Arm in Arm.. <3

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