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Ja   nein   

„Rosie, aufstehen. Es sind schon sieben Uhr.“ Höre ich Mum von unten rufen.
Langsam schleppe ich mich aus meinem Bett, kann meine Augen kaum aufhalten. Wieder eine Nacht ohne Schlaf, geht es mir durch den Kopf. Mit schlurfendem Schritt gehe ich ins Bad und bleibe vor dem Spiegel stehen.
Haare die in alle Richtungen stehen, geschwollene Augen, verlaufene Wimperntusche. Also ein morgen, wie jeder andere.
„Beeil dich mal etwas Rosie, du verpasst sonst noch deinen Bus! Und zieh dich warm an, es ist kalt draußen.“ Ruft Mum wieder zu mir hoch. „Ich bin dabei Mum.“ Versuche ich zu rufen, aber mein Hals ist trocken, alles was ich sage, kommt nur geflüstert hervor.

Es sind gefühlte hunderte Blicke die mich treffen, als ich den Bus betrete. Ich bin die einzige die an dieser Haltestelle einsteigt, sehen mich deswegen jeden Morgen alle so an? Still setze ich mich auf einen freien Platz und nehm meine Kopfhörer raus und schalte Musik ein.
Die Bäume rauschen an meinem Fenster vorbei, als würden wir unglaublich schnell fahren.
Ein großer, schlaksiger Junge mit schwarzen Haaren bleibt neben meiner Sitzreihe stehen, lächelt mich an und fragt mit einer unglaublich sanften aber rauen Stimme „Darf ich mich hier setzen?“ Mein Hals ist noch immer trocken, es bleibt bei einem geflüsterten „Natürlich.“ Vorsichtig sehe ich mich im Bus um, viele freie Sitzreihen waren noch da. Wieso setzt er sich also neben mich?
„Nächste Haltestelle: Bahnhof.“ Tönt es leise und kaum verständlich aus den Lautsprechern. Hier muss ich raus.
Ohne das ich etwas sage, steht er auf um mich durch zulassen und lächelt „Hier musst du raus, oder?“
„Ja, schon. Also ..woher weißt du das?“ krächzt meine Stimme.
Er lächelt freundlich „Ich hab einfach geraten und es gehofft, denn ich muss hier auch raus.“
Wenn er auch hier raus muss, wieso habe ich ihn noch nie gesehen? Seit drei Jahren fahre ich jeden Tag diese Strecke zur Schule, seit drei Jahren habe ich ihn noch nie hier im Bus gesehen.
Wir steigen beide aus und gehen Richtung Innenstadt.
„Ich hab dich hier noch nie gesehen.“ Kommt es plötzlich aus mir heraus. „Ich dich aber.“ Lächelt er und steuert den Weg zu meiner Schule an.
Geht er auch auf meine Schule? „Auf welche Schule gehst du? Gehst du überhaupt noch zur Schule?“ Er sah so reif aus, aber versteht mich jetzt nicht falsch, er sah positiv reif aus. Nicht, als sei er ein Pädophiler, oder etwas in der Art.
„Auf die Selbe, wie du Rosie.“ Woher kannte er plötzlich meinen Namen? Woher kannte er mich eigentlich überhaupt?
„Du kennst meinen Namen?“ Er tippt auf meinen Hals „Steht doch hier, Rosie.“
Ich hatte die Kette an. Mein Dad hat sie mir damals einmal geschenkt, als ich noch ganz klein war. Fünf kleine Würfel, auf jedem ein Buchstabe von meinem Namen. Mum sagte immer diese Kette sei kindisch, aber ich trage sie tierisch gerne. „Achso, upps.“ Nuschel ich vor mich hin und biege in die Straße zu meiner Schule.

Kim kommt auf mich zu. „Hey, Rosie.“ Küsschen links, Küsschen rechts und noch gleich ein zweites links, wie ich das einfach nur hasse. „Hey.“
Sie zieht mich zur Seite, ich stolpere fast. „Kannst du nicht einfach normal was sagen?“ Raunze ich sie leicht an, doch das nimmt sie nicht wahr. „Ich muss dir ganz dringend etwas erzählen.“ Hibbelt sie vor mir auf und nieder. „Dann sag schon, was gibt’s?“ Ich kann mir schon fast denken, was sie mir gleich sagen wird, sie wird mir wieder einmal sagen, dass sie mit Pete zusammen ist. „Pete und ich, wir sind wieder zusammen.“ Ich wusste es! „Du weißt genau, was ich davon halte, Kim. Pete ist .. also ich mag ihn nicht, dass weißt du. Aber .. herzlichen Glückwunsch.“
Jedes Mal lässt sie sich auf ihn ein. Jedes Mal verarscht er sie. Jedes Mal geht sie mehr an ihm kaputt, jedes Mal, darf ich alles ausbaden.
„Du siehst ihn vollkommen falsch, Rosie. Er hat mich am Wochenende zu sich eingeladen. Seine Eltern sind nicht da. Er hat gesagt, er hat eine Überraschung für mich.“ Strahlt sie vor sich hin.
Ist sie wirklich so naiv? „Hör mal Kim, der will doch nur mit dir schlafen! So, wie die anderen Male auch! Und wenn du dann nein sagst, dann wird er wieder Schluss machen und …“ Sie unterbricht mich „Wird er aber nicht, weil ich nicht nein sagen werde.“ Ich hoffe, dass ich mich verhört habe, aber ich weiß genau, dass sie das grade wirklich gesagt hat. „Das ist nicht dein Ernst, oder Kim? Es sind schon so unglaublich viele Mädchen auf ihn reingefallen, willst du auch dazu gehören? Weißt du Kim, ich bin immer für dich da, obwohl du eigentlich nie für mich da bist. Komm nicht weinend zu mir, wenn er wieder Schluss gemacht hat, ich werde dich nicht trösten! Etliche Male hab ich dir jetzt schon gesagt, dass er dich nur verarscht, jedes Mal hatte ich recht und jedes Mal lässt du dich wieder auf ihn ein. Bitte glaub mir nur das eine Mal und geh nicht zu ihm! Bitte.“ Habe ich wirklich so laut geredet? Unsere ganzen anderen Freunde sehen uns komisch von der Seite an. „Du hast doch keine Ahnung, was Liebe ist, Rosie! Er liebt mich! Und ich kann nichts dafür, wenn du mit Problemen nie zu mir kommst.“
„Er liebt dich? Ich bitte dich, Kim! Er möchte doch immer nur mit dir schlafen! Würde er dich lieben, würde er es akzeptieren und auf dich warten und dich nicht dazu zwingen! Und doch, ich weiß sehr wohl, was Liebe ist! Und mit meinen Problemen zu dir zu kommen ist vollkommen unmöglich, du hörst doch nie zu! Sonst wüsstest du ja wohl auch, mehr über mich.“ Ich spüre wie mich die Blicke von der Seite töten, wie sie mich förmlich auffressen, dennoch sehe ich nicht rüber. Ich bleibe standhaft und sehe Kim direkt ins Gesicht. „Nein, weißt du nicht, Rosie. Dann wüsstest du auch, dass das hier Liebe ist! Du bist doch nur neidisch. Und ich weiß ja wohl alles von dir.“
Sie kennt meine Maske, aber nicht mich. Schießt es mir durch den Kopf.
„Okey, das denkst du wirklich, Kim? Ihr kennt mich alle nicht.“ Plötzlich melden sich Stimmen von der Seite. Passend zu den Blicken. „Was soll das Rosie? Mach ihr doch nicht ihr Glück kaputt.“ „Nur weil du keine Ahnung von Liebe hast, Rosie!“ „Lass doch mal Kim in Ruhe!“ Alles was sie sagen ist gegen mich. Wo ist das hin, wenn wir ohne Kim reden? Wo sie alle meiner Meinung sind? „Sagt was ihr wollt, ich weiß, dass ich Recht habe! Und wenn ihr euch nicht traut hier vor Kim zu sagen, was ihr mir sagt, dann finde ich das lächerlich!“

Wut geladen mache ich mich auf den Heimweg. Den ganzen Tag habe ich kein Wort mehr mit Kim und den anderen gewechselt. Ich dachte, wir wären Freunde. Getäuscht, das ist es was ich mich habe. Wir sind keine Freunde, Freunde wären mir nicht so in den Rücken gefallen!
„Darf ich mich wieder setzen?“ Erneut holt mich diese raue aber sanfte Stimme aus meinen Gedanken. „Ja, natürlich.“ Ich nehme meine Tasche vom Sitz und lächel ihn freundlich an. Wie würde Joy jetzt sagen? „Dein Masken-Lächeln“, das würde sie sagen. Aber mehr, als dieses Lächeln bringe ich nicht über meine Lippen. Ich hasse diese Woche. Alles lief schief, nichts läuft so, wie geplant. Alles läuft einfach aus dem Ruder…

Erleichtert stecke ich den Schlüssel in das Schloss der braunen, schweren Haustür. Freitag, wie ich diesen Tag liebe. Unbeschwert mit Grandma zusammen Tee trinken. „Ich bin hier, Rosie.“ Schallt es aus dem Esszimmer.
Ich schlendere über den großen Teppich im Flur ins Esszimmer, wo meine Schuhe dumpfe Töne auf dem Holzboden machen. „Hey, Grandma.“ Lächel ich sie an. „Komm setz dich, Rosie.“
Wie sehr ich das alte Sofa liebte. Es mag nicht mehr das neuste sein, geschweige denn das schönste, aber es hatte etwas Umwerfendes an sich. Fast schon … magisch. „Was gibt es denn?“ Mit den Worten lege ich meine beige Umhängetasche auf den Boden und setze mich neben Grandma.
„Ich hab mir überlegt, dass wir heute mal keinen Tee trinken und dabei über alles reden. Wir beide werden in die Stadt gehen und ein bisschen Shoppen. Was hältst du davon?“
Wie klingt es für euch, wenn eure Grandma mit euch shoppen gehen will? –Nicht noch ein paar dieser komischen Kleider? Nein, so war meine Grandma nicht. Sie war einzigartig. Sie wusste genau, welche Klamotten ich mochte. Sie wusste, wo es die schönsten Läden gab, nicht die in denen alle ihre Sachen kauften. „Sehr gerne Grandma. Aber ich hab kein Geld. Ich hab mir doch vor kurzem erst neue Ringe für die Lippe gekauft.“ Sie lächelt mich an „Das ist doch kein Problem, ich schenke dir das. Das hatte ich sowieso vor. Du hast das auch mal verdient.“ Sie küsst auf meine Stirn steht auf und geht in den Flur um sich fertig zu machen. „Na hopp kleines, wir wollen dann auch langsam los.“
Schnell nehm ich meine Tasche und laufe ihr nach. „Danke Grandma, danke.“ Umarme ich sie was stürmisch.
Ihr herzliches Lachen, wie ich es liebte.

Drei Tüten hängen an meinem Arm und die vierte wird gerade von der Verkäuferin gefüllt. Denkt nicht, ich würde Grandma ausnutzen. Mir hätte die erste Tüte schon gereicht, doch Grandma nahm mich noch mit in viele Läden, legte einige der Sachen die mir gefielen an die Kasse und genoss mein Lächeln.
„Ich hab dich lieb, Grandma.“ Ich musste es ihr einfach noch einmal sagen. „Das sagst du mir schon zum fünften Mal heute, Rosie. Ist wirklich alles okey mir dir?“ Lachte sie mich an und legte ihren Arm um mich. „Mit mir ist alles gut, danke Grandma.“ Es tat gut einfach so mit Grandma mal wieder zu lachen. Einfach mal zuhause raus kommen und dem Elend entfliehen.

„Danke nochmal Grandma, der Tag war toll. Ich ruf dich an.“ Ich winkte noch schnell und lief ins Haus rein. Das Telefon klingelte leise vor sich hin. Mum war wohl gerade beschäftigt.
„Hallo?“
„Rosie? Es tut mir leid!“
„Ach auf einmal?“ –Es war Kim.
„Du bist doch meine Freundin, es tut mir wirklich leid!“
Eine halbe Stunde über ging das so weiter. Sie entschuldigte sich immer und immer wieder. Und sie hatte recht. Sie ist meine Freundin, also nahm ich ihre Entschuldigung an.
„Nun sag mal, was hast du heute schönes gemacht?“
„Ich war mit Grandma shoppen, das war einfach genial. Ich sitz hier grade zwischen 4 vollen Tüten.“ Lachte ich leise. Ich saß auf dem Boden, neben der Kommode und hielt das Telefon in der Hand, während ich mit Kim redete.
„Ach, sowas hätte ich auch mal gerne … Ich bekomm nie was gekauft.“
„Das stimmt doch nicht, Kim.“
„Doch, immer muss ich betteln. Und du bekommst einfach mal die vier Tüten gekauft…“
Und wieder einmal versank sie im Selbstmitleid. Und wieder mal schaffte sie es, meine gute Laune kaputt zu machen. Aber nicht heute! „Kim, ich hab das auch nicht immer. Das ist auch selten, das weiß du ganz genau. Aber ich muss jetzt auflegen, aufräumen und so. Bis dann. Wir sehen uns sicher in den Ferien!“ Ich legte den Hörer auf die Station und stand auf.

Wo war Mum eigentlich? Ich ging rauf ins Arbeitszimmer. „Ach da bist du ja, Rosie.“ Ich legte die Tüten auf den Boden, ging um den Schreibtisch rum, gab ihr einen kleinen Kuss auf die Wange und lächelte ihr über die Schulter. „Was machst du da, Mum?“
„Ich sortiere nur die alten Akten von Dad, weißt du kleine. Jetzt nach seinem Tod, muss das ja wer anders machen. Oder besser gesagt, endlich mal jemand. Er hat es ja nie getan.“, lacht sie leise vor sich hin. „Aber sag mal, wie war dein Tag mit Grandma? Hattet ihr viel Spaß“ Deutet sie auf die Tüten. „Ja, allerdings. Grandma hat mir ein paar neue Klamotten für den Winter gekauft.“, ein breites Lächeln konnte ich mir einfach nicht verkneifen. „Das freut mich, Rosie.“

Mein Kleiderschrank musste dringend mal ausgemistet werden, denke ich mir als ich den Berg alter Klamotten auf dem Boden sehe. Die neuen Klamotten hingen zusammen mit den Klamotten, die ich aufbewahrte in meinem Kleiderschrank. Die neue Unterwäsche verstaute ich in der Kommode daneben.
„Vielleicht ist Joy ja da.“, dachte ich mir und ging rüber zu meinem Schreibtisch und machte meinen Laptop an. Joy lebte leider 500km von mir entfernt, dennoch war sie meine beste Freundin. Das beste in meinem Leben. Und ja, sie war online. Unser Chat-Fenster blinkte schon.

[Joy]
Hallo Liebes, ich hab schon auf dich gewartet.c:
[Rosie]
Hey, Joy. C: Tut mir leid, ich war mit Granny shoppen, hat länger gedauert als ich angenommen habe, aber es war schön. :b Gibt’s was wichtiges, oder wieso hast du auf mich gewartet? :*
[Joy]
Oh, das freut mich. Hast du was abgestaubt? :D Ja, aber erzähl erst mal vom Shoppen. (:
[Rosie]
Ganze vier Tüten, hab ich abgestaubt. –Hängt alles schon in meinem Schrank, der alte Kram musste direkt mal Platz machen. :b
[Joy]
Das musst du mir unbedingt alles zeigen, süße. :*
[Rosie]
Klar, wenn du magst kann ich dir Cam an machen? :b
[Joy]
Nein, ich meine zeigen! *-*
[Rosie]
Wie? Na an der Cam da siehst du es doch, du Torfnase. :D :*
[Joy]
Nein, pack es in einen Koffer. Sofort! <:
[Rosie]
Soll ich’s dir per Post schicken, oder was willst du von mir?oô
[Joy]
NEIN! Du kommst mich besuchen! *-*
[Rosie]
Hä? :o Wie? Wann? :o *-*
[Joy]
Morgen früh, da fährt dein Zug. Schreib’s dir auf. Morgen früh um 9:36 Uhr, von Gleis 3. Damit kannst du ganz durchfahren. Ich hole dich dann am Bahnhof ab. C:
[Rosie]
Ist das dein Ernst? Wann hast du das denn ausgemacht? Und … nein, warte! Ich muss doch Mum fragen. :o
[Joy]
Alles schon passiert, Süße. Dad hat mit ihr telefoniert. Ich hab ihn den ganzen Tag damit genervt. Hat sie dir noch nichts erzählt?! Naja, aber Rosie? Du kommst her, ENDLICH! *-*
[Rosie]
Nein, hat sie nicht. :o Aber JA! *-* Oh man, ich muss sofort packen, Joy. :o Ich schreib dir später noch eine sms.c: Oh man, bis später dann! Love you, my dear. *-*
[Joy]
Mach das. Ich muss auch noch alles aufräumen, extra für dich. :b Love you2, my darling.c:

Ohne halt stürmte ich durch’s Haus zu Mum. „DANKE; DANKE; DANKE; DANKE; DANKE (…)“, fiel ich ihr um den Hals. „Hast du mit Joy geschrieben?“ Lächelte sie mich herzlich an. „JA! Danke Mum, vielen Dank.“ Ich ließ sie immer noch nicht los. „Aber versprech mir, dass du dich ganz oft meldest, Rosie. Und mach keine Dummheiten. Ach und du musst mir erzählen, wie es da oben ist, ich war noch nie im Norden, aber ich hab gehört die Wohnungen sollen dort ziemlich günstig sein.“ Zunächst schnalle ich gar nicht, was Mum dort grade gesagt habe, aber dann fällt es wie ein Fels. „Die Wohnungen da oben? Hast du etwa vor nach dort zuziehen?“, meine Augen strahlten bei der Frage.
„Ja, vielleicht.“, lächelte sie mich an.

Vollkommen aufgeregt wartete ich an Gleis 3 auf den Zug. Es waren gerade mal 9:15Uhr, aber ich konnte es einfach nicht abwarten. Der Wind verwirbelte meine Haare etwas und es war ziemlich kalt, aber dennoch war ich aufgeregter als jemals zuvor. Endlich würde ich sie sehen. Meine beste Freundin, die ich einfach irgendwie liebte. „Vorsicht an Gleis 3, der Zug nach Cuxhaven, über Hamburg trifft in wenigen Minuten ein.“, tönte es aus den Lautsprechern. Meine Aufregung stieg noch einmal um das gefühlte doppelte an.
Ich war fast ganz alleine am Bahnhof. Es warteten nur ein paar Leute an Gleis 1 auf den Zug nach Köln.
Einige Stunden im Zug warten nun auf dich, Rosie. -Schoss es mir durch den Kopf, als ich sah wie der Zug rein fuhr. Ein Mann stieg aus, direkt nach ihm, stieg ich in den Zug ein. Ich setzte mich an einen bequem scheinenden vierer, direkt ans Fenster. Mum war schon früh gefahren, da sie zur Arbeit musste, also konnte ich ihr nicht mehr winken, aber ich schrieb ihr eine Nachricht. „Ich sitz im Zug, Mum. Ich vermiss dich jetzt schon, pass auf dich auf. Ich meld mich wieder, wenn ich angekommen bin. Deine Rosie.“
Es dauerte ein paar wenige Minuten und dann fuhr der Zug schon los, mein Herz begann zu pochen, vor Aufregung.

„Nächster Halt, Hamburg Hauptbahnhof. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.“, meldete sich der Lautsprecher. Mit einem Mal, wurde ich noch aufgeregter.
Nur noch zwei Stunden und du bist da, Rosie!
Der Zug leerte sich ziemlich, an dieser Haltestelle. Plötzlich sah ich einen Jungen, er sah fast so aus, wie der von gestern, der sich im Bus neben mich setzte. Ich sah noch einmal hin. Er war es. Was machte er hier nur im Zug?

„Du musst aufstehen, Rosie.“, flüsterte mir jemand ins Ohr. Ich kannte diese Stimme, doch ich konnte sie nicht zuordnen. Ich öffnete meine Augen und sah in seine schönen braunen Augen. Er war es, der mich geweckt hatte. „Was machst du hier?“, krächzte ich mit verschlafener Stimme. „Ich fahr zu einem Kumpel.“, lächelte er freundlich. Ich sah ihn verwirrt an, doch dann fiel mir auf, dass ich da war. Ich war da, endlich!
„Ich muss hier raus!“, sprang ich auf. „Ja, ich weiß.“, lachte er leise. „Ich auch, deswegen hab ich dich ja geweckt.“ „Und woher weißt du, dass ich hier raus muss?“ „Hat mir mein Kumpel gesteckt.“
Ich sah ihn wieder verwirrt an, aber ich hatte keine Zeit für lange Fragen. Ich schnappte mir meinen Koffer und stürmte so schnell es ging aus dem Zug. Mein Koffer machte es mir nicht gerade leicht, da er auch nicht grade leicht war. Welch Ironie, nicht wahr? –Jetzt musste ich selbst über meine Gedanken lachen. „Was denkst du nur für einen Müll, Rosie.“, lachte ich ganz still vor mich hin.
Ich sah mich um, suchte Joy. Fand sie aber zunächst nicht.

„Rosie?!“, hörte ich ihre Stimme von hinten immer näher kommen. Ich drehte mich um, sie war es. Ich ließ meinen Koffer stehen und lief auf sie zu. Ja, genau. Wie in diesen kitschigen Filmen. Sie lief mir entgegen. Als wir auf der Selben Höhe waren knallten wir aneinander und umarmten uns. Wie gut es einfach nur tat, ihre warmen Arme um mich zu spüren. „Oh man, du heulst ja.“, lachte ich sie leise an und machte ihre Träne weg. „Du aber auch.“ Lachte Joy leise und machte meine Träne weg. „Alles Freudentränen.“, grinste ich. „Ja, ich weiß, Süße.“
Wir gingen zu meinem Koffer um ihn zu holen. „Siehst du den Jungen da vorne?“ Ich deutete nach vorne. „Welchen? Den schlaksigen mit den schwarzen Haaren?“ „Ja, genau der. Das ist voll komisch. Als ich gestern zur Schule gefahren bin, hat er sich neben mich gesetzt und meinte, dass er mich kennt. Aber ich kannte ihn nicht im Geringsten, dabei fahre ich ja schon drei Jahre lang mit dem Bus. Und heute war er auch im Zug und meinte er besucht seinen Kumpel, oder sowas.“ Ich sah sie leicht fragend an, als sie anfing leise zu lachen. „Das ist Pat. Ich kenn ihn flüchtig. Er kommt in den Ferien oft zu Marc. Die beiden sind sowas wie beste Freunde. Marc hat wohl mal da unten gewohnt, wo du wohnst. Dann ist er nach hier gezogen.“ „Warte, Marc? Dein Marc? Also…“ Sie lachte leise. „Ja, der beste Freund, Marc.“ Pat hieß er also. Aber wieso kannte er mich?


Es dauerte nicht lange und ich hatte mich bei Joy ziemlich gut eingelebt. Ihr Vater war sehr nett. Der einzige Vater, von Freundinnen, mit dem ich klar kam. Ihre Mutter hat sie verlassen. Genauso wie Dad uns. Nein, sie starb nicht wie er an Krebs, sie ließ sie einfach im Stich, als Joy süße fünf Jahre alt wurde. „Dad, sieh mal. Ich finde Rosie hat genauso eine Metall-Fresse wie Jennifer Rostock, oder nicht?“, lachte Joy ihren Vater beim Essen an. Ich musste mit lachen, denn irgendwie hatte sie recht. Meine Nase war genauso wie ihre, mit einem Septum gelöchert, meine Lippe schmückten doppelte Snakebites, es fehlte nicht mehr viel und ich säh so aus, wie sie. „Sag mal, hat deine Mutter dir das alles eigentlich erlaubt?“, fragte Anton, Joy’s Dad. „Naja … fast alles. Mum und Dad erlaubten mir damals das Septum. Sie meinten ‚Das kannst du noch hoch drehen, falls dein Arbeitgeber oder andere Leute das nicht akzeptieren.‘ –Was ich aber nicht getan hätte. Nun ja, aber als Dad dann starb, hab ich mich mit den Piercings abreagiert. Das war Mum dann lieber, als das ich mich ritzen würde.“
Joy zog wie automatisch die Ärmel ihres grauen Pullovers mit der grünen Schleife runter. „Ich hab mir überlegt, dass du auch dein Piercing haben darfst, Joy. Immerhin bist du 16 und bevor du es heimlich auf der Straße machst, gehe ich lieber mit dir zu einem Profi.“ Sie strahlte sofort los. „Oh, danke Dad. Danke, danke, danke!“

Nach ein paar Tagen lernte ich auch Marc kennen, Joy’s bester Freund. Er war wirklich so genial drauf, wie sie immer erzählte. Er redete ohne Punkt und ohne Komma. Lachte durch weg und war einfach gut drauf. Genauso wie Pat. Auch ihn lernte ich mehr kennen. Sehr viel mehr. Joy meinte immer, dass es nochmal etwas mit uns geben würde, doch ich verneinte das immer nur grinsend. Doch irgendwo war ich glaube ich, in ihn verknallt. Es tat einfach gut, in seiner Nähe zu sein. Seiner Stimme zuzuhören und sein Lachen zu sehen.


„Schon eine Woche rum, wie schnell doch die Zeit vergeht.“, sagte Joy leise zu mir, als wir abends in ihrem Bett lagen. „Ja, leider! Ich wünschte ich könnte viel länger hier bleiben.“ „Ich habe Dad eben mit deiner Mum telefonieren gehört. Also sie ruft doch immer mal hier an, um zu hören ob es dir gut geht und sowas. Naja, auf jeden Fall, sagte er etwas wie ‚Es wäre schön, euch hier zu haben.‘ Vielleicht will deine Mum ja nach hier ziehen.“ „Ja, sowas hatte sie erwähnt, bevor ich gefahren bin. Aber wieso meinte dein Vater, das es schön sei uns hier zu haben?“ Joy kicherte leise „Ich glaube mein Vater hat sich in deine Mutter verguckt.“ Ich musste mit kichern. Das würde heißen, wir könnten zusammen leben. Wir … das wäre einfach großartig, schießt es mir durch den Kopf. Einmal würde alles perfekt laufen. Ich hätte meine beste Freundin an meiner Seite und vielleicht auch bald einen Freund.
Dabei fiel mir ein, dass ich noch gar nicht aus Pat heraus bekommen habe, wieso er mich kannte. –Das wirst du ihn einfach morgen fragen, nahm ich mir vor.


„Guck, da sind Marc und Pat schon.“, deutete Joy zum Kino. Wir gingen etwas schneller, kurze Begrüßung und schon saßen wir im Kino. Pat saß neben mir, welch ein Zufall. –Nicht. Joy hatte es extra so gedreht. Sie sagte vorhin schlicht „Pat und Rosie sitzen nebeneinander, okey!? –Gut.“  und so war es dann auch. Aber ich muss gestehen, ich hatte nichts dagegen, ich denke, das war euch allen klar. Oder nicht? Die Werbung lief noch, Joy und Marc unterhielten sich über irgendwelche Leute aus dem Ort. „Sag mal Pat, woher kanntest du mich eigentlich?“, kam es fast schon ungewollt über meine Lippen. „Naja … also …“, fing Pat an vor sich hin zu stottern. „Marc hatte mir von dir erzählt, bzw. er erzählte mir, das die beste Freundin, von seiner besten Freundin - also du – auch dort lebt, wo ich lebe. Also wurde ich neugierig. Er hat mir ein Bild von dir gezeigt. Ich wusste, ich hatte dich schon mal auf unsere Schule gesehen, ich wusste nur nicht, wer du bist. Aber du fällst halt auf. Also positiv, finde ich jeden Falls.“, er lächelte mich so süß an. Ich konnte nicht anders, als leicht dahin zu schmelzen. „Zum Glück bist du neugierig geworden.“, plapperte ich meine Gedanken aus. Ich biss mir leicht auf die Lippe, kam mit meinen Zähnen leicht an das Metall der Ringe und musste leicht kichern. „Morgen ist meine Lippe dran, das sag ich dir Rosie.“ Mischte sich Joy kurz ein.
Der Film begann und wir wurden still.
Plötzlich spürte ich eine warme, große Hand an meiner. Ich wollte grade meinen Arm von der Lehne nehmen, die ich mir mit Pat teilen musste, da ich mir dachte, er habe nicht genug Platz, da hielt er sie fest, lächelte mich an und hauchte ganz leise „Lass sie liegen.“ Er hielt sie sanft in seiner. Sein Blick ging kurz über mich hin weg zu Joy und Marc, die beide gespannt auf die Leinwand starrten.
Alles was ich danach spürte waren weiche, warme Lippen, die meine küssten.

Ich packte meine Sachen zusammen, nahm die geschätzten 50 Bilder und packte sie in eine Hülle. „Ich mag nicht gehen, Joy.“, ließ ich mich auf ihr Bett fallen, mit einer kleinen Träne die meine Wange runter kullerte. „Das waren die schönsten Wochen meines Lebens. Einfach mal nicht diese falschen Freunde wie Kim und alle anderen, um mich herum. Echte Freunde, Freunde bei denen ich mich zuhause gefühlt habe.“ Sie setzte sich neben mich, nahm mich in den Arm, küsste auf meine Stirn, mit ihrer frisch gepiercten Lippe und hauchte „Vielleicht kommst du ja ganz bald wieder, aber ich hätte dich gerne auch länger hier, viel länger! Nein, für immer.“
Wir lagen uns die ganze Zeit in den Armen, bis ihr Vater kam und sagte, dass wir los müssten. Der Zug würde schließlich nicht auf uns warten.
Langsam und träge schleppten wir uns von dem vierten Stock ihrer Wohnung ins Erdgeschoss. Ich musste mich fast zwingen zum Bahnhof zu gehen, geschweige denn in den Zug einzusteigen.
Mit jedem Kilometer den ich fuhr, wollte ich umkehren. Aussteigen und den nächsten Zug zurück nehmen. Pat konnte mich nicht aufhalten, er war schon früher gefahren. Saß nicht mit mir im Zug. Ich war alleine, kämpfte alleine mit den Tränen.

„Wieso hast du dich nicht gemeldet, Rosie?“, raunzt mich Kim direkt an, als ich an der Schule an komme. „Ich war nicht da, Kim.“ „Achja? Wo warst du denn?“ „Um ehrlich zu sein, war ich bei Joy, in Cuxhaven.“ „Wieso erzählst du mir das erst jetzt?!“ „Weil …“ Und schon unterbrach sie mich. „Ist jetzt auch egal. Ich hab Probleme Rosie. Ich … hab mit Pete geschlafen … aber er … er hat mich nur benutzt.“ Fing sie an zu weinen. Doch Mitgefühl konnte ich ehrlich nicht zeigen, kein Stück.
„Hab ich dich nicht gewarnt Kim? Ich hab es dir gesagt! Und ich hab dir auch gesagt, dass du dich jetzt nicht bei mir ausheulen musst, also hör auf damit!“ So, endlich war es raus. Ich hatte einfach keine Lust mehr darauf. Kaum war ich wieder hier, war ich nur der Kummerkasten. Direkt fühlte ich mich nicht mehr so, als würde ich dazu gehören. Als hätte ich echte Freunde.
„Wie kannst du sie nur so runter machen, Rosie? Siehst du nicht, dass es ihr schlecht geht?“, hörte ich Becka von der Seite reden. „Dann kümmer du dich doch um sie! Immer bin ich die Böse Becka! Immer! Dabei seid ihr es! Ja, ihr!“ alle sahen mich verwundert an. „Gleich wärt ihr doch wieder zu mir gekommen und hättet gesagt ‚Kim ist so naiv, wieso schläft sie auch mit diesem Idioten.‘ Doch jetzt, jetzt sagt ihr in Kims Gegenwart, dass ich die Dumme bin, das ihr auf ihrer Seite seid. Na fein, bitte! Ich halte euch nicht davon ab! Kümmert euch um sie, ich bin raus!“ Kurzer Hand ging ich. Lieber hatte ich keine Freunde, als diese falschen Freunde. Ich merkte, wie verdutzt sie mir alle samt nach sahen, aber es war kein schlechtes Gefühl, nein es tat unheimlich gut!

Ein neues Leben fing ab heute an. Ich war eine neue Rosie! Joy hatte mich verändert, ihr Starrkopf, den sie immer durchsetzte, ihre Meinung die sie immer sagte, all das tat ich in letzte Zeit auch und es tat gut, es tat einfach nur gut!
Den ganzen Tag redete ich kein Wort mit Kim, Becka und den anderen. Ich stand immer bei Pat und seinen Freunden, die ich zwar noch nicht kannte, aber dennoch waren sie mir hundert Mal lieber.
Die Schluss-Glocke läutete, fest entschlossen ging ich auf dem Weg zum Bus an meinen ‚Freunden‘ vorbei, blieb vor ihnen stehen und sagte: „Ihr könnt euch das Maul so sehr über mich Zerreisen wie ihr wollt, denkt nicht ich sei so dumm und habe es in der Schule oder gerade nicht gemerkt. Glaubt mir, ich hab es gemerkt! Aber mir soll es egal sein. Und damit auch ihr mal etwas über mich wisst: Ich werde umziehen. Meine Mutter und ich ziehen in eine kleine süße Wohnung nach Cuxhaven. In die Selbe Wohnung, in der Joy mit ihrem Dad lebt. Schönes Leben noch, hat mich gefreut!“

Mit einem Mal fühlte ich mich einfach frei. Hatte nicht mehr das Gefühl meinen Freunden was vormachen zu müssen. Nicht mehr die Angst, dass hinter meinem Rücken über mich gelästert wird. Einfach das Gefühl glücklich zu sein, kennst du das?


Jetzt kennt ihr meine Geschichte, tue ich euch jetzt Leid? –Wenn ja, hört auf. Ich will euer Mitleid nicht. Oder eure Unverständnis mir gegenüber.
Ende vom Blog, Rosie.

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